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Politische Chamäleons

erschienen in Clara, Ausgabe 23,

Ob bei der Rente mit 67 oder
der Leiharbeit: Erst wird entschieden,
 später will es keiner gewesen sein.

Am 3. Januar titelte DIE WELT: »Gabriel schockt die Leiharbeitsbranche«. Der SPD-Chef hatte zuvor für Leiharbeiter den gleichen Lohn wie für die Stammbelegschaft, möglichst sogar einen Aufschlag von zehn Prozent, gefordert. Bemerkenswert war das insoweit, als es die SPD war, die 2003 mit Bundesarbeitsminister Clement für die massive Ausweitung der schlecht bezahlten Leiharbeit gesorgt hatte. Damals saß Gabriel im Bundesvorstand der SPD – an entscheidender Stelle. Es brauchte neun Jahre, bis Gabriel die Forderung von Gewerkschaften und LINKEN aufgriff. Mittlerweile sitzt er in der Opposition und kann sich bis auf Weiteres sicher sein, dass er seine Forderungen nicht umsetzen muss.

Dieselbe Methode bei der Rente mit 67: Zum Jahreswechsel meldete der bayerische Ministerpräsident Seehofer Zweifel an dem Vorhaben an und forderte dazu eine »breite öffentliche Debatte«. SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles machte deutlich, die Anhebung des Renteneintrittsalters könne erst umgesetzt werden, wenn »es genügend Arbeitsplätze auch für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt«. Unerwähnt blieb, dass im Jahr 2007 beide im Bundestag für das Vorhaben votiert hatten. Erst jetzt – sechs Jahre später – stellen fehlende Arbeitsplätze für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer plötzlich ein Problem dar. Öffentlichkeitswirksame Zweifel aber sollen bei Wählerinnen und Wählern Eindruck machen. An der Einführung der Rente mit 67 indes rüttelt – trotz aller Verlautbarungen – niemand außer der LINKEN.

Ein weiteres Beispiel: Kanzlerin Merkel befürwortet mittlerweile eine Finanztransaktionssteuer und wird dabei von SPD und Grünen unterstützt. Als 1999 die damalige PDS die Forderung nach der Tobin-Steuer zur Finanzmarktregulierung in den Bundestag einbrachte, wurde sie sowohl von der Union als auch von der rot-grünen Koalition niedergestimmt. SPD und Union erneuerten ihre Ablehnung im Jahr 2007, als sie der LINKEN-Forderung nach einer Finanztransaktionssteuer beschieden, sie sei »nicht mehr zeitgemäß«. Jetzt, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, greifen Union, Grüne und SPD die Forderung der LINKEN auf und wollen die eigene Vergangenheit vergessen machen. Auch das ein populistisches Manöver. Die Union veranstaltet mit dem Vorschlag einen Budenzauber, der von den gravierenden Versäumnissen bei der Finanzmarktregulierung ablenken soll. SPD und Grüne entdecken wiederum ihr soziales Gewissen erst, wenn sie nichts mehr entscheiden müssen. 

Für den renommierten Journalisten Hans Peter Schütz ist das »Populisten-Politik zum Abgewöhnen«, die auf das Vergessen politischer Schandtaten setzt und zu sich selbst in Opposition geht, wenn die getroffene Entscheidung kaum mehr rückgängig zu machen ist. »Heute so, morgen andersrum. Und wenn es Kritik an politischen Reformen setzt, […] dann will es keiner gewesen sein.«