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Nicht zum Schweigen gebracht

Von Sevim Dagdelen, erschienen in Clara, Ausgabe 40,

In der Türkei wurden jüngst die kritischen Journalisten Can Dündar und Erdem Gül zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Doch die beiden Männer kämpfen weiter, berichtet Sevim Dağdelen.

Der Mut zur Wahrheit hat in der Türkei einen hohen Preis. Fünf Jahre und zehn Monate soll Can Dündar, Chef der regierungskritischen türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, wegen Geheimnisverrats ins Gefängnis, fünf Jahre sein Kollege Erdem Gül, der das Hauptstadtbüro des Blattes leitet. Der Vollzug der Haftstrafe ist ausgesetzt, bis das Berufungsgericht das Urteil überprüft hat.

Die Journalisten haben im vergangenen Jahr über illegale Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes MIT an islamistische Terrorgruppen in Syrien berichtet, haben Fotos und Videoaufnahmen veröffentlicht und damit die Staatsführung um Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Bedrängnis gebracht. Die ertappten Waffendealer reagierten mit Lüge und Repression: Die gestoppten Lastwagen hätten keine Waffen, sondern Hilfslieferungen transportiert, tönte es dreist aus Ankara. Tatsächlich war das Kriegsgerät für den Regime Change im Nachbarland unter Babynahrung versteckt.

Die Behörden verhängten eine Nachrichtensperre über den Fall. Erdoğan zeigte die Journalisten persönlich an. An Dündar und Gül will der türkische Präsident ein Exempel statuieren. Er forderte nicht nur zweimal lebenslänglich für das Duo, er setzte auch durch, im Verfahren als Nebenkläger zugelassen zu werden. Gleichzeitig wurde die Öffentlichkeit vom Prozess ausgeschlossen.

Bevor die Richter am 6. Mai ihr Urteil verkündeten, versuchte sich ein Anhänger Erdoğans in Selbstjustiz. In einer Prozesspause feuerte ein polizeibekannter 40-jähriger Mann vor dem Gerichtsgebäude vor laufenden Kameras mehrere Schüsse auf Can Dündar ab. Seine Frau Dilek Dündar, die bei ihrem Besuch der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag im April schon bleibenden Eindruck hinterlassen hatte, packte den Attentäter und verhinderte Schlimmeres. »Ich hörte, wie der Attentäter rief: ›Vaterlandsverräter‹ und habe zugepackt. Es war ein Reflex«, erzählte sie später. Ein Reflex, der ihrem Mann vermutlich das Leben gerettet hat. Ein Reporter des Fernsehsenders NTV wurde durch einen Querschläger leicht verletzt, der Schütze festgenommen.

 

»Zwei Attentate innerhalb von zwei Stunden«

Nach dem Urteilsspruch stellte Can Dündar klar: »Innerhalb von zwei Stunden haben wir zwei Attentate erlebt.« Das eine sei ein juristisches. Das andere das zuvor erlebte. Für beides sei niemand anderes als Präsident Erdoğan verantwortlich. Der Staatschef sei »wie ein Staatsanwalt« aufgetreten und habe ihn zur »Zielscheibe« erklärt. Das Ziel sei klar: Unliebsame Kritiker sollen mundtot gemacht werden, so oder so. Can Dündar und Erdem Gül stellten aber auch klar: Unterkriegen lassen sie sich nicht. »Wir werden weiterhin unsere Arbeit als Journalisten erledigen«, versprach der Cumhuriyet-Chef. Daran könnten »alle Versuche, uns zum Schweigen zu bringen«, nichts ändern. Sein Verteidiger kündigte Berufung an.

Enttäuscht und entsetzt ist Can Dündar von der Haltung der Bundesregierung. Während er und sein Kollege sich vor Gericht verantworten mussten, verpflichtete Kanzlerin Angela Merkel (CDU) den Despoten am Bosporus als Türsteher der Europäischen Union bei der Abwehr von Flüchtlingen. »In der Türkei herrscht ein Kampf zwischen Demokraten und Autokraten«, schrieb Dündar in einem offenen Brief an Merkel. »In dieser historischen Schlacht stehen Sie und Ihr Land leider auf der falschen Seite.« Vergeblich rief er sie vor ihrer Reise in die Türkei im Mai auf: »Treffen Sie sich auch mit uns!« Die Hälfte der Menschen denke anders als Erdoğan, »aber Sie hören bei Ihren Besuchen nie diesen Teil der Gesellschaft. Dabei sind wir diejenigen, die für die europäischen Werte, für Demokratie, Menschenrechte, Freiheit, Säkularismus in der Türkei einstehen.«

 

Sevim Dağdelen ist Sprecherin für Internationale Beziehungen der Fraktion DIE LINKE, war als Prozessbeobachterin in Istanbul und ist mit Can Dündar befreundet.