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Neue Zeitbombe in Irland

erschienen in Clara, Ausgabe 19,

Seit der Wirtschaftskrise haben sich die Immobilienpreise halbiert. Weil die Regierung Löhne und Sozialleistungen kürzt, können zehntausende Familien die Kredite für ihre Häuser nicht mehr bezahlen. Täglich werden es mehr.

Dublin. Den Staatsbankrott konnte Irland vor wenigen Monaten gerade noch verhindern. Das Land flüchtete sich unter den Euro-Rettungsschirm und verpflichtete sich zu Sparmaßnahmen mit drastischen Folgen für die Menschen. Nun könnte alles noch schlimmer kommen, denn eine neue Zeitbombe tickt: Mehr als 300 000 irische Hausbesitzer haben ein negatives Eigenkapital, der Wert ihrer Immobilie ist inzwischen niedriger als die auf ihr lastende Hypothek.


Viele von ihnen befinden sich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Derzeit tilgen laut Irischer Zentralbank 30000 irische Hypothekenschuldner nur noch ihre Zinsen, rund 30000 haben seit mehr als sechs Monaten gar keine Rückzahlungen mehr geleistet. Insgesamt belaufen sich die Schulden der irischen Hausbesitzer auf mehr als 100 Milliarden Euro, abgesichert vom europäischen Bankensystem. Diese Summe stellt den im vergangenen Dezember vereinbarten 67,5-Milliarden-Euro-Rettungsschirm noch in den Schatten.


Vor allem junge Paare mit relativ geringem Einkommen hatten während des irischen Immobilienhypes Häuser gekauft. Der 35-jährige Klempner Paul Lynch ist einer von ihnen. Vor 18 Monaten hat er seinen Job bei McKenna Engineering nach mehr als 17 Jahren verloren. Ein Jahr lang bekam er ein wöchentliches Arbeitslosengeld von 188 Euro. Jetzt erhält er nur noch 50 Euro, weil seine Ehefrau Orla berufstätig ist und 20 000 Euro netto im Jahr verdient. Das muss für die beiden und ihr einjähriges Kind James zum Leben reichen.


2800 irische Geisterviertel


Noch kann Paul Lynch die Monatsraten für ihre kleine Doppelhaushälfte in Dublin mit seiner Abfindung von der Firma begleichen. Aber er weiß nicht, was er tun soll, wenn sie aufgebraucht ist und er die Raten nicht mehr abzahlen kann. Ihn drücken Schulden für ein Haus, das noch vor wenigen Jahren einen Wert von 500.000 Euro besaß, jetzt aber auf nicht einmal mehr 200.000 Euro taxiert wird.


Seit dem Jahr 2007 sind die Wohnungspreise in Irland um 55 Prozent gefallen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Schon jetzt gibt es wegen eines Überangebots von Häusern 2800 Geisterviertel in Irland. Zwar ist die Zahl der Zwangsversteigerungen von Wohneigentum mit einigen Hundert noch niedrig, doch derzeit laufen mehr als 5000 Gerichtsverfahren. Noch schützt ein von der Regierung angeordnetes zweijähriges Moratorium irische Familien vor der Räumung. Aber damit ist das Problem nur aufgeschoben.


Familie Lynch spart, wo es geht. Früher seien sie in Urlaub gefahren, am Wochenende ausgegangen. „Jetzt kann ich mir nicht einmal mehr einen Imbiss leisten“, sagt Paul Lynch. Selbst seine Leidenschaft für Fußball musste er an den Nagel hängen. Jahrelang fuhr er mit seiner Mannschaft Celtic Glasgow durch die Stadien Europas. Das ist jetzt vorbei.
„Ich bin immer früh aufgestanden und habe selbst am Wochenende gearbeitet. Ich habe sogar angeboten, für weniger Lohn zu arbeiten, wenn ich meinen Job behalten kann, aber es hat nichts genützt“, sagt Paul Lynch. „Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn das Baby nicht da wäre.“ Paul Lynch hat sich um Arbeit in England, Holland und Deutschland bemüht, bisher ohne Erfolg. Er hat Freunde in Hamburg, die dort arbeiten, und hofft, dass sie ihm einen Job besorgen können.


Lohnkürzungen von 7,5 Prozent


Die Sparmaßnahmen der Regierung dämpfen die Inlandswirtschaft. Allein die Haushaltskürzungen der irischen Regierung entzogen der Ökonomie 15 Milliarden Euro. Die Einkommen der Iren sind durchschnittlich um mehr als sechs Prozent gesunken. Mehr als 16000 Arbeiterinnen und Arbeiter mussten den öffentlichen Dienst verlassen, bis zum Jahr 2014 werden weitere 21000 folgen. Angesichts dieser wirtschaftlichen Entwicklung steigt das Risiko, dass in Zukunft noch weniger Familien in der Lage sein werden, ihre Hypotheken-Kredite abzubezahlen.


Viele Menschen, die in der Falle des negativen Eigenkapitals stecken, wollen darüber nicht reden. Zu groß ist die Scham, öffentlich eine Verschuldung einzugestehen. Eine junge Krankenpflegerin, die in einem Hospiz arbeitet und nicht namentlich genannt werden will, sagt: „Der letzte Staatshaushalt mit seinen Steuererhöhungen hat mich finanziell kalt erwischt. Ich habe einen Vertrag, bei dem ich zurzeit nur die Zinsen auf das Hypothekendarlehen zahle. Ich habe um eine Fristverlängerung gebeten, damit ich kleine Reparaturen vornehmen und das Haus auf den Markt bringen kann.“ Doch selbst wenn sie einen Käufer finden würde, bliebe sie auf ihren hohen Schulden sitzen, weil die Hauspreise derzeit so niedrig sind.


Gavan und Kate Duffy arbeiten als Pfleger im Krankenhaus von Sligo, einer 17000-Einwohner-Stadt im Nordwesten Irlands. Sie gehören zu den wenigen ihrer Generation, die kein Haus kauften, weil sie ein Fallen der Preise befürchteten. Auch ohne Immobilien-Schulden treffen sie die Einsparungen der Regierung hart. Im April 2009 mussten sie eine Lohnkürzung von 7,5 Prozent und eine zusätzliche Rentenabgabe von ebenfalls 7,5 Prozent verkraften. Zusammen mit Steuererhöhungen verringerte sich Gavan Duffys Jahreseinkommen von 35.000 auf 28.000 Euro. Das Einkommen seiner Ehefrau schrumpfte ähnlich. In diesem Jahr werden beide noch mehr Geld verlieren. Eine neue Sozialabgabe der irischen Regierung kostet sie weitere 2.450 Euro im Jahr.


Besonders schlimm hat die Krise jene Menschen getroffen, die zu Beginn der Rezession von ihren Arbeitgebern in die Scheinselbständigkeit als Subunternehmer gedrängt wurden. Mit diesem Trick, so versprachen die Arbeitgeber, sollten sie ihre Arbeit behalten. Nach ein paar Monaten wurden die Leute dennoch entlassen und mussten feststellen, dass sie nicht einmal mehr Anspruch auf Arbeitslosengeld oder andere Sozialleistungen hatten. Was viele nicht wussten oder ignorierten im Hoffen auf ihren Arbeitsplatz: Im irischen Sozialsystem verliert jeder, der sich selbständig macht, sofort alle Ansprüche. Dabei hatten viele von ihnen mehr als zwanzig Jahre lang in die Sozialversicherung eingezahlt.


In den vergangenen Rezessionen Irlands konnten Kleinunternehmen und Selbständige überleben, in der gegenwärtigen Krise jedoch haben selbst viele wohlhabende Geschäftsleute ihr Unternehmen und ihr Eigenheim verloren. Oft hatten sie ihre Profite in Eigentum investiert, um Steuererleichterungen und günstige Bankkredite mitzunehmen. Jetzt haben sie nichts mehr. Und die Zeitbombe tickt weiter.
 

Übersetzung: Rosemarie Nünning