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Mitten im türkischen Bürgerkrieg

Von Jan van Aken, erschienen in Clara, Ausgabe 39,

Die Altstadt von Diyarbakir liegt in Schutt und Asche – wie auch der Friedensprozess zwischen türkischer Regierung und kurdischer Bewegung. Jan van Aken war vor Ort.

Am 21. Januar konnte ich für einen kurzen langen Tag die Altstadt von Diyarbakir (kurdisch: Amed) im Südosten der Türkei besuchen. Dort, im jahrtausendealten Stadtteil Sur, herrschen seit Anfang Dezember Ausgangssperre und bürgerkriegsähnliche Zustände. Im Hintergrund hört man ununterbrochen Maschinengewehrsalven und immer wieder schwere Explosionen. Ständig fahren Panzerfahrzeuge von Polizei und Militär in das abgesperrte Gebiet, über allem kreist ein Hubschrauber.    Fast alle Einwohnerinnen und Einwohner von Sur mussten mittlerweile fliehen, Strom und Wasser sind abgestellt, Scharfschützen der Armee machen es unmöglich, sich im Zentrum des Stadtteils frei zu bewegen. Auch im – noch nicht abgesperrten – benachbarten Stadtteil gibt es Einschusslöscher in den Wänden, zerstörte Scheiben, aufgerissene Straßen. Auch hier sind Menschen in den letzten Wochen gestorben – mitten in der Türkei, nicht in Syrien oder Irak. Hier in Diyarbakir und in anderen Hochburgen des kurdischen Widerstandes wird hautnah deutlich, wie gnadenlos die türkische Regierung im Moment auf einen blutigen Bürgerkrieg mit den Kurdinnen und Kurden setzt. Noch vor Jahresfrist führte sie Friedensverhandlungen mit Abdullah Öcalan, dem Gründer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Jetzt stehen alle Zeichen auf Krieg.   Über die Ursachen kann man nur spekulieren. Aber es spricht vieles dafür, dass es einen engen Zusammenhang mit dem Erstarken der kurdischen Bewegung im Norden Syriens gibt. Dort haben die Kurdinnen und Kurden – mitten im syrischen Bürgerkrieg – eine Art rätedemokratischer Selbstverwaltung aufgebaut. Nach der erfolgreichen Verteidigung der Stadt Kobanê haben sie auch angrenzende Gebiete erobert und so die Daesch-Terroristen (auch bekannt als „Islamischer Staat“) zurückgedrängt. Präsident Erdogan und seine Regierung fühlen sich durch diese kurdische Selbstverwaltung bedroht und fürchten, dass sie in die kurdisch-türkischen Gebiete überschwappt. Zumindest bis vor Kurzem gab es sogar direkte Waffenlieferungen der türkischen Regierung an die Dschihadisten in Syrien.    Europa schaut weg    Der schlimmste Moment der Reise war, als die Mutter eines 16-jährigen Mädchens, das in Sur von türkischen Scharfschützen erschossen worden war, mit Tränen in den Augen fragte, warum Europa jetzt schweige. Für sie sei es schlimm genug, dass ihre Tochter tot sei. Aber Erdogan habe ihre Tochter eine Terroristin genannt, und das sei nicht zu ertragen. Ihre Tochter war während einer Feuerpause nur kurz nach Hause gegangen, um ihre Schulsachen zu holen. Dann galt wieder die Ausgangssperre, sie kam nicht mehr raus, und wenige Tage später war sie tot. Ihre Mutter fragte mich, wie die europäische Öffentlichkeit wohl reagieren würde, wenn die Bundeswehr Teile von Hamburg mit Panzern und Artillerie beschießen würde.    Auch in Diyarbakir wird wahrgenommen, dass Deutschland und Europa die Türkei im Moment ausschließlich durch die Flüchtlingsbrille sehen. Solange Erdogan die Schmutzarbeit für die Europäische Union erledigt und die Kriegsflüchtlinge von den europäischen Grenzen fernhält, so lange wird Europa schweigen. Da spielt es auch keine Rolle, dass die türkische Regierung die Menschenrechte immer stärker mit Füßen tritt, Journalisten inhaftiert, die eigene Bevölkerung im Südosten bombardiert und Flüchtlinge wieder direkt nach Syrien abschiebt – in den sicheren Tod.    Erdogan hat sich zum schmutzigen Mann vom Bosporus entwickelt – all das weiß die Bundesregierung, aber sie schaut entschlossen weg, in der brutalen Hoffnung, dass er für sie das Flüchtlingsproblem löst.    Jan van Aken ist außenpolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE