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Mit Hartz IV voll gegen die Wand

erschienen in Clara, Ausgabe 15,

Die Agenda 2010 nährt in ungeahntem Ausmaß Angst, Armut und Ausgrenzung. Zwei Frauen, eine Langzeitarbeitslose und eine Kundenbetreuerin in einem Jobcenter, erzählen von ihrem Alltag mit Hartz IV.

»Vermintes Gelände, so fühlt es sich jedes Mal an«, sagt Annette Wagner aus Sachsen, »wenn ich das Jobcenter betrete.« Die 38-Jährige muss an einem Sicherheitsdienst vorbei und hält dann den Atem an. Seit neun Jahren ist die gelernte Friseurin arbeitslos. Sie hat am Empfang eines Salons gearbeitet. Mit 29 Jahren wurde sie Mutter. Mit ihrem privaten Glück, der Geburt eines Sohnes, begann ein Kreislauf, der sie immer tiefer in den Strudel sozialer Ausgrenzung zog. Ihr Mann fand Arbeit in Bayern. Die Kündigung erhielt Annette Wagner noch im Mutterschutz. Dagegen wehrte sie sich erfolgreich. Doch als sie nach drei Jahren ihre Arbeit wieder aufnehmen wollte, wurde ihr erneut gekündigt. Sie erhielt ihre Papiere auf der Straße. Einfach so, ohne ein Gespräch. »Du bist raus«, so beschreibt Annette ihren Schock von damals. Kurze Zeit später ging auch ihre Ehe in die Brüche.

Simone Wunderlich* ist seit fünf Jahren Kundenberaterin in einem Jobcenter. Damals ist sie hoch motiviert und mit Elan an ihre neue Aufgabe gegangen. Sie wollte Menschen helfen, wieder eine Arbeit zu finden. Rund 200 sollten es laut ihrer Stellenbeschreibung sein. Tatsächlich sind es fast 500 Kunden. »Ich arbeite ausschließlich im Hartz-IV-Bereich. Vom Akademiker bis zum Jugendlichen ohne Schulabschluss habe ich alles dabei. Arbeitslose sind hier eine anonyme Ware, eine statistische Zahl geworden. Ich selbst werde auf Zielvorgaben geschult, und nur danach wird meine Arbeit bewertet. Der einzige Sinn von Zielvorgaben ist die Verringerung von Hilfeleistungen. Wir müssen mit allen Mitteln Sanktionen verhängen. Das heißt nichts anderes als Geld zu kürzen.«

Hitlisten im Abstrafen

Annette Wagner nahm jede Maßnahme, ob ABM oder Schulungen wahr. Sie arbeitete in einer Wald-ABM, trainierte ihre Fähigkeiten, sich »richtig zu bewerben«, und wurde im kaufmännischen Bereich unterrichtet. »Das Computer-Training war das einzige, was mir wirklich etwas gebracht hat. Leider kann ich mir keinen eigenen PC leisten, so dass man schnell alles wieder verlernt.« Als sie einen Vertrag als Produktionshelferin in einer Leiharbeitsfirma bekam, war sie glücklich. Die Arbeit machte Spaß und ging ihr flink von der Hand. Täglich musste sie mit ihrem alten Auto rund 50 km nach Chemnitz und später nach Oberlungwitz fahren. Da sie in drei Schichten und auf Abruf arbeitete, konnte sie die wenigen Möglichkeiten des öffentlichen Nahverkehrs nicht nutzen. »Das Auto war in dieser Zeit oft in der Werkstatt. Doch der Nettolohn für meine Arbeit in drei Schichten in Vollzeit betrug 600 Euro. Wie sollte ich davon die Reparaturen bezahlen? Ein halbes Jahr bekam ich Fahrkostenbeihilfe. Dann war Schluss. Die Firma, bei der ich arbeitete, verlagerte ihren Standort nach Dresden. Dort hätte ich niemanden für mein Kind gehabt, wenn ich Spät- oder Nachtschicht gearbeitet hätte. Seit dem 1.11.2008 bekomme ich Hartz IV. Das ist furchtbar. Die Art, wie man behandelt wird. Das Gefühl, das ich immer empfinde, als sei ich schuld. Der Druck ist unerträglich. Wenn ich vom Arbeitsamt komme, bin ich jedes Mal fix und fertig.«

Der Schwachsinn steuert ins Aus

»Wir sind keine Verwaltungsangestellten mehr, wir sind Psychotherapeuten, Ermittler und Sozialarbeiter – alles in einem«, sagt Simone Wunderlich. Immer mehr Mitarbeiter/innen von Jobcentern bräuchten selbst psychotherapeutische Behandlung, weil sie dem Druck der Zielvorgaben nicht mehr Stand halten könnten. »Vor kurzem stellte unsere Teamleiterin in der Beratung fest, wir hätten nicht genügend sanktioniert. Die Vorgaben für Sanktionsmaßnahmen waren nicht erfüllt worden. Sie drohte uns. Wir können zu Schadenersatz herangezogen werden, wenn wir nicht genügend sanktionieren.«

Die Regionaldirektionen der Arbeitsagentur stehen in einem zynischen Wettbewerb. Siegerin im Ranking ist diejenige, die die meisten Zwangsmaßnahmen verhängt hat. In einem offenen Brief vom 6. Juni 2009 schrieb der Hauptpersonalratsvorsitzende der Bundesanstalt für Arbeit Eberhard Einsiedler an den Vorstandsvorsitzenden der BA Frank-Jürgen Weise: »Es gilt nur auf Gedeih und Verderb ein zahlenmäßig vorgegebenes Agenturergebnis zu erreichen, damit ein ordentlicher Rangplatz in der Hitliste der Agenturen und somit auch der RD [Regionaldirektion] erreicht wird. Es ist absurd festzustellen, dass gestandene Führungskräfte der Veröffentlichung der Rangliste angsterfüllt entgegenfiebern. [...] Von einem normalen Führungsdialog, bei dem Zielerreichung ein wichtiger – aber nicht der einzige – Baustein ist, sind wir meilenweit entfernt. Lernen an Fehlern ist ein Fremdwort.«

Simone Wunderlich weiß, dass nur gegenseitige Achtung Vertrauen schafft. »Ich muss einen Draht zum Bürger haben, mir sein Vertrauen erarbeiten und seine Lebenssituation kennen, dann kann ich mit ihm arbeiten. Mit Druck erreiche ich gar nichts, besonders bei jungen Leuten nicht. Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Viele Langzeitarbeitslose sind weder bildungs- noch integrationsfähig in unserer knallharten Gesellschaft. Die Ursachen sind vielfältig. Da sind Defizite in der Schule und im Elternhaus zu finden. Wenn Kinder und Jugendliche zu Hause keine Vorbilder mehr haben, weil die Eltern selbst arbeitslos sind, wie sollen sie lernen, was es heißt, regelmäßig seinen Lebensunterhalt zu erarbeiten? Was habe ich damit gekonnt, wenn ich den Jugendlichen die ALG-II-Bezüge auf Null kürze? Dann droht Zwangsvollstreckung, die Wohnungsgesellschaft bleibt auf ihren Kosten sitzen, und die Jugendlichen gehen klauen. Ist das der Sinn von Sanktionen?«

Annette Wagner steckt zurzeit in einer »Maßnahme«. Sie geht jeden Morgen ins Arbeitslosenzentrum. Dort strickt sie Strümpfe, für gemeinnützige Zwecke. Für den Arbeitsmarkt wird sie damit nicht tauglicher, aber sie hat eine Aufgabe, und die bringt ihr zusätzlich 40 bis 70 Euro im Monat. Andere Frauen fertigen Stuhlkissen oder schneidern Faschingskostüme. Sie reden viel über früher und wie es jetzt ist. An ihre Rente wollen sie nicht denken. Jede von ihnen hat eine oder sogar mehrere Berufsausbildungen abgeschlossen, erzählen sie stolz. Ihre Fähigkeiten brauche heute keiner mehr. Die Betriebe wurden nach der Wende abgewickelt oder gingen pleite. Neue Industrie sei nicht entstanden. Die jungen Leute seien abgewandert nach Bayern oder anderswo. Das Leben sei ein Lotteriespiel.

Simone Wunderlich gibt nicht auf. Sie will Veränderung und damit steht sie nicht alleine. »Wir müssen endlich alle Bildungsmaßnahmen, die seit 20 Jahren sinnlos sind, streichen. Daran bereichern sich oft nur die privaten Bildungsträger. Wir brauchen sozialversicherungspflichtige Jobs in Beschäftigungsgesellschaften. Vor fünf Jahren sagte man uns, es werde sich alles ändern. Wir würden ein neues Haus in der Betreuung von Langzeitarbeitslosen bauen und wären gerade beim Fundament. Ich glaube, wir sind in einen Tunnel gerutscht. Unsere Gesellschaft degeneriert immer weiter.«

Mit den zusätzlichen Belastungen der derzeitigen konjunkturellen Wirtschaftslage ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Bundesagentur steuerungsunfähig wird. Eberhard Einsiedel schrieb vor einem Jahr an seinen Chef: »Solch einen Schwachsinn braucht man nicht zu steuern, er steuert sich selbst, nämlich gegen die Wand.«

*Name wurde geändert.

Katja Kipping, sozialpolitische Sprecherin der Fraktion DIE LINKE.im Bundestag
»In Zeiten, in denen viel über Erwerbslose gesprochen wird, sollten die Gespräche besser mit den Betroffenen selbst geführt werden. Das Bündnis für ein Sanktionsmoratorium, dem ich angehöre, fordert die sofortige Aussetzung der Sanktionen bei Hartz IV. Die im Bündnis vereinten Vertreter/innen von Erwerbslosenbewegung, Wissenschaft und Politik sind der Auffassung, dass die Grundrechte der Erwerbslosen gestärkt werden müssen, dazu gehört das Grundrecht auf das menschenwürdige Existenzminimum. Deshalb unterstützt die Fraktion?DIE LINKE neben dem Sanktionsmo-ratorium auch die Petition zur ersatzlosen Streichung des Sanktionsparagrafen.«