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Man muss Putin nicht verstehen, aber man muss seine Politik analysieren

erschienen in Clara, Ausgabe 32,

Wolfgang Gehrcke im Interview nach seiner Moskaureise

Sie sind nach Moskau gefahren, um mit Leuten in der Duma und außerhalb des Parlaments zu sprechen. Warum?

Wolfgang Gehrcke: Immer wenn es ein gutes Verhältnis zwischen Deutschland und Russland gibt, war und ist das auch gut für ein stabiles Europa. Im Moment sind wir weit entfernt davon. Und da ich mich mein ganzes politisches Leben mit dem Land, den Verhältnissen dort beschäftigt habe, auch sehr viele persönliche Kontakte habe, wollte ich vor Ort erfahren, wie denkt russische Politik zurzeit, was hat sie vor. Erst dann kann ich doch die Dinge einordnen, ins Gespräch kommen und nach Kompromissen suchen.

Wen haben Sie getroffen?

Parlamentarier verschiedener Fraktionen, Putin-Gegner genauso wie Putin-Fans, aber auch Intellektuelle, Freunde, Menschen einfach quer durch die politische Landschaft. Die Frage dabei war immer, welche Sprache spricht man. Nicht im ursächlichen Sprachsinn, sondern im politischen Sich-Verstehen. Verstehen bedeutet eben, dass die von der EU entwickelte Konzeption, die Ukraine langfristig an Europa zu binden, nicht funktionieren kann. Die sich dabei dann auch noch entscheiden muss zwischen Russland und der Europäischen Union. Russland wird die NATO nicht an seinen Grenzen akzeptieren. Ihnen wurde auch in den 1990er Jahren zugesagt, dass die NATO nicht im Bereich der ehemaligen Sowjetunion präsent sein wird. Keiner hat sich daran gehalten. Wir müssen jetzt mit Russland neue Formen diskutieren, wie Sicherheit in Europa gewährleistet und umgesetzt werden kann.

Wo liegt denn Ihrer Meinung nach das Problem für die politische Kälte zwischen Europa, den USA und Russland?

Es wird so getan, als sei Russland kein Teil von Europa. Es hat seit dem Zusammenbruch Osteuropas keine inhaltliche Kooperation mit Russland gegeben, auch keine kulturelle Kooperation. Man hat in Deutschland zu wenig verstanden, dass Russland einen entscheidenden Anteil an der Befreiung der europäischen Länder vom Faschismus gehabt hat. Das alles hat in Russland zu Verbitterung geführt, bricht jetzt auch auf. Ich habe zu allen Zeiten, auch mitten im Kalten Krieg, von Nikita Chruschtschow bis hin zu Michail Gorbatschow mit allen Präsidenten persönliche Gespräche geführt. Und die Vision Gorbatschows von einem gemein-samen Haus Europa hat mich fasziniert. Wirklich mal den Versuch zu unternehmen, ein gemeinsames Haus mit vielen verschiedenen Zimmern zu gestalten. Weg von der Blockspaltung, weg von dem Gegenüberstehen der Armeen. Von dieser Idee ist leider nichts im Bewusstsein geblieben.

Und jetzt?

Ich habe die Absicht, zusammen mit russischen Abgeordneten eine solche Konzeption wieder aufzugreifen, zu schreiben und zu diskutieren. Ich glaube, dass der Bundestag eine neue Ostpolitik braucht. Die muss anknüpfen an das, was Willy Brandt und Egon Bahr damals formulierten: Wandel durch Annäherung und die Feindbilder überwinden. Ich kann mir das gemeinsame Haus Europa vorstellen, eins der Vielfalt. Ich bin überzeugt, dass die jetzige Situation in Russland und auch die in der Europäischen Union nicht die letzte Antwort ist. Europa ist mehr und etwas anderes als die Europäische Union jetzt, es ist aber auch etwas anderes als das, was Putin sich vorstellt.

Wie offen wurden solche Anregungen von den russischen Abgeordneten aufgenommen?

Es gab immer schon regelmäßige Treffen zwischen dem Auswärtigen Ausschuss der Duma und des Bundestags. Abwechselnd in Moskau und Berlin. Das waren sehr anregende Debatten. Wenn der stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, Leonid Kalaschnikow – er hat nichts mit dem Erfinder der gleichnamigen Waffe zu tun, eine Einladung von uns bekäme, wäre er sofort da. Er will aber alle seine Ausschussmitglieder mitbringen. Der Fraktionsvorsitzende von »Gerechtes Russland« – die verstehen sich als Sozial-demokraten – erzählte mir, er sei von der EU »gelistet«. Das heißt, er bekommt keine Einreisegenehmigung. Das war ein ungeheuer peinliches Gespräch, bei dem auch der deutsche Botschafter mit dabei war. Die russischen Kollegen würden gern eine gemeinsame Sitzung mit uns bestreiten. Wir haben die Frage mit nach Berlin bekommen, ob alle Duma-Mitglieder auf so eine Liste gesetzt wurden, und ich habe Außenminister Steinmeier geschrieben, er müsse das klären. Denn, wenn man die parlamentarischen Kontakte völlig abbricht, wie will man da zu einer Verständigung kommen.

Haben Sie einen Stimmungswandel in der Bevölkerung gespürt Gibt es Ängste?

Ich habe mit linken Intellektuellen ge-sprochen, Menschen, die nicht in der Duma sitzen. Die haben mich darauf aufmerksam gemacht, dass es in Russland einen überbordenden Nationalismus gibt. Ich hab mir nicht vorstellen können, dass schwarz gekleidete Faschisten mit Hitlergruß mitten durch Moskau marschieren. Nationalismus, Rechtsextremismus – das muss ausgebremst werden, sagen meine Gesprächspartner. Wer aber könnte das? Wer muss den Impuls geben? Da kommt man relativ schnell auf Putin. Nun muss ich Putin nicht verstehen, aber ich muss seine Politik analysieren. Man muss vom russischen Präsidenten fordern, diesen Nationalismus einzudämmen, denn er führt auch im Innern zum Abbau demokratischer Rechte.

Es gab das Genfer Treffen. Erstmalig saßen Russland und die Ukraine an einem Tisch, flankiert von den USA und der EU. Die gefundene Vereinbarung scheint bei den Betroffenen vor Ort aber nichts zu fruchten.

Es ist gut, dass die internationale Diplomatie verhandelt. Russland hat vorge-schlagen, dass die drei Außenminister Polens, Frankreichs und Deutschlands dazukommen – das wäre vernünftig. Man muss eine Regelung für die Soldaten in der Ostukraine finden, die sich auf die Seite der – sage ich mal vorsichtig – Aufständischen gestellt haben. Die müssen Straffreiheit bekommen, wenn sie sagen, sie schießen nicht auf die eigene Bevölkerung. Da gibt es doch vergleichbare Erfahrungen von 1989 in der DDR. Dann muss man wirklich aufklären wollen, was auf dem Maidan passierte. Wenn es um eine neue Ver-fassung geht, gehören die Blockfreiheit und ein Verbot nazistischer Organisationen dazu. In einem Europa des 21. Jahrhunderts haben die keinen Platz, nirgendwo. Es muss über soziale Ausgleichsmaßnahmen gesprochen werden. Ich bleibe dabei, ich möchte, dass miteinander geredet wird – und zwar direkt und nicht über Raketenzäune hinweg. Es gibt keine sinnvolle Alternative dazu.