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Lernen in und mit der Gemeinschaft

erschienen in Clara, Ausgabe 21,

Die Fritz-Karsen-Schule ist in vieler Hinsicht etwas Besonderes. Sie steht in Berlin-Neukölln, aber dort im sogenannten Britzer Loch. Britz bedeutet, wenn auch bescheidener, so doch Wohlstand. Baulich ist es noch immer Avantgarde durch die berühmte Hufeisensiedlung Bruno Tauts. An der Fritz-Karsen-Schule ist heute Schulfest. Laut und bunt und ausgelassen. Ein bisschen Jahrmarkt, stolze Selbstpräsentation und -vergewisserung. Der Vorsitzende der Elternvertretung, Detlef Bading, steht am Grill. Er trägt ein Shirt, auf dem das Logo der Schule prangt: FKS. Die Shirts werden ein paar Meter weiter von den Frauen des Vereins »Freunde der Fritz-Karsen-Schule« verkauft und gehen weg wie warme Semmeln. Bading erzählt, wie viele von den schönen Dingen auf dem Schulgelände und in den Gebäuden in Eigenleistung entstanden sind. »Wir machen eine Menge Veranstaltungen, um den Leuten Geld aus der Tasche zu locken«, sagt er und lacht. »Davon bauen wir ein Klettergerüst, ein Gartenhäuschen, eine Bühne und kaufen Fußballtore. So was eben.« Trotzdem gebe es einen Sanierungsstau – die Toiletten müssten gemacht werden, das Dach über der Aula sei undicht, der Sportplatz stehe kurz vor der Schließung. »Allein in Berlin-Neukölln bräuchten wir 70 Millionen, um alle Schulen zu sanieren. Man kann ja nicht alles in Eigenleistung machen.«

Nils Maltzahn und Tim Haferland, die beide eine elfte Klasse besuchen, würden Geld – so es mehr davon gäbe – aber lieber in die Verkleinerung der Klassen und die Aufstockung des Lehrerpersonals stecken. »Wir haben sieben siebte Klassen und dafür nicht genügend Räume«, sagt Nils. Aber dann sagt er auch: »Ich finde Gemeinschaftsschule vernünftig, weil man hier miteinander und nicht gegeneinander lernt.« Und Tim schickt hinterher: »Ich lerne was von denen aus der siebten und die lernen was von mir.« Der 17-Jährige kam in der achten Klasse auf die Fritz-Karsen-Schule, wollte eigentlich einen Hauptschulabschluss machen. Jetzt macht er Abitur.

Rund 1200 Kinder und Jugendliche besuchen diese Gemeinschaftsschule, die sich gemeinsames Lernen von der ersten bis zur zehnten Klasse auf die Fahnen geschrieben hat. Es gibt mehr Anmeldungen als Plätze.

Sitzenbleiben ist abgeschafft

Im Jahr 2007 wurde der Beschluss gefasst, sich am Modellversuch Gemeinschaftsschule zu beteiligen. Der fußte auf einer Haltung, die Verschiedenheit zur Normalität erklärt und damit niemanden mehr ausschließt. An der Fritz-Karsen-Schule ist die Durchlässigkeit hin zu einem höheren Schulabschluss groß. Zwischen 40 und 60 Prozent der Lernenden kommen in die Abiturstufe. Sitzenbleiben ist abgeschafft, die Trennung in Gymnasiasten, Real- und Hauptschüler schon lange.

Schulleiter Robert Giese redet nicht klein, wie viel das jeder und jedem in der Schule abverlangt. »Eine Reform muss gut vorbereitet werden, sonst geht sie schief. Der stärkste Teil unserer Schule ist das jahrgangsübergreifende Lernen (JÜL) in den Klassen eins bis drei. Wir haben damit 2007 angefangen, und im kommenden Jahr werden wir es auf die Klassen vier bis sechs ausweiten. Aber beim JÜL kann man nicht nach dem S-Bahn-Prinzip lehren – alle sitzen hintereinander. »Der Frontalunterricht hat hier als dominierende Unterrichtsform ausgedient. Die Lehrenden müssen das Lehren neu lernen. Das ist harte Arbeit.« Robert Giese sagt, JÜL sei das beste System überhaupt, wenn es richtig vorbereitet worden ist. Die Leistungsstarken können vorzeitig in höhere Klassen, die Schwächeren werden aufgebaut und nicht beschämt zurückgelassen. »Für alle ein Gewinn.«

Am Bücher- und Trödeltisch auf dem Schulhof stehen zwei Mütter, die haben ihren Schulabschluss auch an der Fritz-Karsen-Schule gemacht. Das hört man hier häufig, diesen Satz: »Meine Großmutter war schon hier, meine Mutter auch und jetzt ich.« Die beiden Frauen sind allerdings skeptisch, was die Ausweitung von JÜL auf die höheren Klassen anbelangt. »Wie soll das gehen«, fragen sie, sagen aber auch: »Wir werden sehen, wie es läuft, und uns nicht dagegenstellen.«

Pädagogik der Anerkennung

Robert Giese ist seit Langem ein Kämpfer für die Gemeinschaftsschule. Er ist damit an die Öffentlichkeit getreten und wird nicht müde zu sagen, dieses Schulmodell eröffne die Möglichkeit, dass die soziale Herkunft keine große Rolle mehr spiele. Zugleich könne die Gemeinschaftsschule auch viel besser als andere Schulformen Kinder einbinden, die ein Handicap haben. »Wir haben rund fünfzig behinderte Kinder hier. Was wir brauchen, sind mehr Sonderpädagogen und natürlich kleinere Klassen. Fünfundzwanzig Kinder pro Klasse sind zu viel, wenn ich es mit der Inklusion ernst meine. Zwanzig wären optimal.«

Darüber hatten die Schülerinnen und Schüler mit Politikern gestritten. Über die Vorstellung, es könne zwar viele Reformen geben, aber sie müssten wenn möglich kostenneutral sein. Die Frau vom Freundesverein der Schule packt ein kleines Bündel Geldscheine ein. Die Shirts haben sich wirklich gut verkauft. Mit dem Geld kann der Verein wieder etwas für die Kinder und Jugendlichen tun. Zumindest kleinere Defizite lassen sich so beseitigen, und manche sinnhafte Aktion kann organisiert werden.

Das Land Berlin hat sich auf den recht holprigen Weg begeben, eine gemeinsame Schule für alle Kinder zu entwickeln. In einem Zeitungsartikel hatten Robert Giese und sein Vorgänger Lothar Sack vor vier Jahren geschrieben: »Der Glaube, dass nur Unterricht in Gruppen von Gymnasiasten, Realschülern, Hauptschülern, Sonderschülern zu guten Ergebnissen führe, kommt einem religiösen Dogma nahe. Dieses Festhalten an der Ständeschule des Kaiserreiches unterscheidet uns von den meisten europäischen Nachbarn.« Das Berliner Modell Gemeinschaftsschule versucht, dem etwas entgegenzusetzen, auch wenn die extremen Formen der Auslese – die Gymnasien und die Förderschulen – unangetastet bleiben.

»Eine Pädagogik der Anerkennung« – aus dem Mund Robert Gieses klingt es wie eine Beschwörungsformel. Und tatsächlich bestätigt die Fritz-Karsen-Schule diesen Ansatz. Mehr Lernen und weniger Unterricht, das macht die Kinder und Jugendlichen zu Hauptpersonen.

Die trauen sich, auf dem Schulhof schwierige Wissenstests aufzustellen, bei denen nicht alle Lehrerinnen und Referendare so gut abschneiden wie manche Schüler. Wo liegt welche Stadt in Deutschland – da liegt man schnell daneben. »Versuch das mal«, sagt ein Mann zu seiner Frau. »Das ist sauschwer.« Die Frau lässt es lieber.

Von der Terrasse über dem Eingang zur Aula klingt die Musik der Schulband. Zwei große Stimmtalente übertönen den Festplatzlärm auf dem Schulhof. Langsam senkt sich der frühe Abend über das Schulfest. Heute haben sie gemeinsam gefeiert an der Fritz-Karsen-Schule, und morgen … Morgen werden sie wieder gemeinsam lernen, die Großen und die Kleinen der Gemeinschaftsschule im Britzer Loch.