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Leiharbeiter hofft auf Klagewelle

erschienen in Clara, Ausgabe 20,

Weil einer Tarifgemeinschaft die Tariffähigkeit abgesprochen wurde, könnten jetzt hunderttausende Leiharbeiter nachträglich Lohn einklagen. Bisher getrauen sich das nur wenige. Frank Schellenberg ist einer von ihnen.

Großen Ärger wollte der Leiharbeiter Frank Schellenberg (51) eigentlich nicht haben. Er wollte bei seiner Leiharbeitsfirma nur das einfordern, was ihm seiner Meinung nach zustand. Immerhin hatten Deutschlands höchste Arbeitsrichter jene Tarifgemeinschaft für tarifunfähig erklärt, die einst seinen Lohn ausgehandelt hatte. Für Frank Schellenberg bedeutete das Urteil die Aussicht auf 9.000 Euro Nachzahlung. Als er diesen Betrag von seiner Leiharbeitsfirma TABEL forderte, erhielt er jedoch die Einladung zum Gespräch mit einem Vorgesetzten. »Mein Vorgesetzter hat mir deutlich gemacht, dass sich die Firma etwas einfallen lässt, wenn ich meine Klage nicht zurückziehe«, sagt Frank Schellenberg. Drei Tage später erhält er nach eigenen Angaben ein Kündigungsschreiben ohne schriftliche Begründung. Doch Frank Schellenberg gibt nicht auf und fordert nun gerichtlich sein Geld ein und seinen Job zurück.

Frank Schellenberg ist einer von 200000 Leiharbeitern, die seit Dezember 2010 auf Nachzahlungen klagen können. Damals hatte das Bundesarbeitsgericht in Erfurt die Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Serviceagenturen (CGZP) für nicht tariffähig erklärt. Der Tarifvertrag für das Jahr 2009 verlor seine Gültigkeit. Im Mai folgte das Berliner Arbeitsgericht dem Urteil der Erfurter Richter und fügte hinzu, dass auch die Lohnabschlüsse der Jahre 2004, 2006 und 2008 unwirksam seien. Weil somit für die betroffenen Leiharbeiter keine gültigen Tarifverträge mehr existierten, bedeutet dies: Gemäß dem Prinzip »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« können sie Lohn nachfordern. Denn sie hätten während dieser Zeit genauso viel verdienen müssen wie die Stammbelegschaft. Nach Einschätzung von Experten können diese Urteile für die betroffenen Personen rückwirkende Nachzahlungen von 5.000 bis 30.000 Euro pro Person bedeuten. Eine Summe, die die Leiharbeitsunternehmen den Beschäftigten nachzahlen müssten.

Doch bis heute versuchen nur wenige Leiharbeiter, ihre Nachzahlungen einzuklagen. Viele wollen ihren Arbeitgebern nicht negativ auffallen und hoffen darauf, irgendwann eine Festanstellung in ihrem Betrieb zu bekommen. Der Grund für die geringe Anzahl an Klagen ist die Angst der Beschäftigten, ihren Job zu gefährden. Denn viele Unternehmen üben Druck auf jene Leiharbeiter aus, die es wagen, Nachzahlungen einzuklagen. Dahinter steht das Kalkül der Unternehmen, erfolgreiche Klagen zu vermeiden, die eine Klagewelle gegen ihr Unternehmen auslösen könnten. Deshalb sitzen viele Leiharbeitsfirmen die für sie günstige Situation aus.

Für Frank Schellenberg gibt es jedoch keinen Zweifel: »Wir Leiharbeiter arbeiten doch wie die Sklaven, da verzichte ich nicht auch noch auf meine Nachzahlungen.« Sechs Tage die Woche arbeitete der Tiefdrucker an der Maschine, jeden Tag acht Stunden. Eine Woche Frühschicht, eine Woche Spätschicht, eine Woche Nachtschicht und wieder von vorn. An Samstagabenden war der alleinerziehende Vater dann ausgelaugt. »Ich kam gar nicht auf die Idee, mir wie früher eine Dauerkarte des FC St. Pauli zu kaufen«, sagt der Leiharbeiter.

Geschaffen wurden diese Arbeitsbedingungen im Jahr 2003 von der rot-grünen Bundesregierung. Mit der Entfristung der Leiharbeit wurde den Unternehmen erlaubt, Leiharbeiter dauerhaft zu beschäftigen. Gleichzeitig sorgte Rot-Grün dafür, dass Zeitarbeitsfirmen nicht mehr verpflichtet sind, ihre Leiharbeiter dauerhaft einzustellen. Wenn es keine Aufträge gibt, kann ein Zeitarbeitsunternehmen seine Leiharbeiter entlassen. »Leiharbeit ist hierzulande ein Arbeitsverhältnis minderer Qualität nach dem Hire-and-fire-Prinzip«, fasst es die ver.di-Justiziarin Martina Trümner zusammen. Vor den rot-grünen Reformen sei das noch verboten gewesen. Zudem ermöglichte Rot-Grün, dass mit »Billig-Tarifverträgen« vom Prinzip »Gleicher Lohn für gleiche Arbeit« abgewichen werden konnte.

Das erklärte Ziel von Rot-Grün war es, Arbeitslosen durch die neuen Vorschriften zur Leiharbeit den Wiedereinstieg in Betriebe zu erleichtern und den Unternehmen zu helfen, Produktionsspitzen abzufangen. Genutzt hat die Einführung der Leiharbeit aber vor allem den Unternehmen, die mit dem dauerhaften Einsatz von Leiharbeitern die Lohnkosten senken und ihre Gewinne vergrößern können. Denn in Deutschland bekommen Leiharbeiter bislang im Durchschnitt nur 50 bis 70 Prozent des Lohnes der Festangestellten. Jeder achte Leiharbeiter muss zusätzlich zu seiner Arbeit Hartz-IV-Aufstockung beantragen, um seinen Lebensunterhalt zu finanzieren.

Seitdem Rot-Grün den Arbeitsmarkt deregulierte, stieg die Anzahl der Leiharbeiter in Deutschland bis heute auf rund 700000 an. Aber auch die Stammbelegschaften geraten immer mehr in unsichere Beschäftigungsverhältnisse. Heute sind bei Betrieben mit mehr als 250 Beschäftigten 67 Prozent aller Neueinstellungen befristet. Festanstellungen weichen Schritt für Schritt flexiblen Arbeitsverhältnissen wie der Leiharbeit. In den Firmen entstehen Zwei-Klassen-Gesellschaften. Dabei zeigt die Kleidung oft den Unterschied zwischen den Löhnen und Verträgen. So war es auch bei Frank Schellenberg. Die Stammbelegschaft trug traditionell blaue Arbeitsanzüge, die Leiharbeiter hingegen beigefarbene.

Im Sommer wird über Frank Schellenbergs Nachzahlungen verhandelt und darüber, ob seine Kündigung unrechtmäßig war. Fünfzehn seiner zwanzig Kollegen, die wie er als Leiharbeiter beschäftigt sind, klagen ebenfalls. Frank Schellenberg ist sich sicher: »Die betroffenen Leiharbeiter müssen auf jeden Fall klagen, ganz egal wie groß der Betrieb ist.« Es geht um ihre Nachzahlungen, ihre Rentenansprüche, höheres Arbeitslosengeld, aber auch um ihr Recht zu klagen. Die ver.di-Justiziarin Martina Trümner hofft: »Wenn die ersten Verfahren positiv entschieden werden, dann gibt es eine Klagewelle.«

Ole Guinand

Wie Leiharbeiter ihre Nachzahlungen einklagen können – darüber gibt es unter anderem Informationen im Internet unter www.igmetall.de

Mehr zum Thema unter:

www.linksfraktion.de/mindestlohn