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Europa hat ein lebenswichtiges Bedürfnis - einen kritischen Geist

erschienen in Clara, Ausgabe 2,

Gastkommentar von Francis Wurtz, Vorsitzender der Konföderalen Fraktion der Vereinten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke im Europaparlament

Die Fraktion der Vereinten Europäischen Linke/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) ist kein politisch homogenes Gebilde. Ihre 17 Delegationen aus 13 Ländern sind wie ein Fächer der Sensibilitäten, dessen Bogen sich spannt von der unversöhnlichen Verteidigung der nationalen Souveränität bis zur Leidenschaft für ein föderales Europa. Hinzu kommt, dass es zwischen den Abgeordneten, die sich über die soziale Frage hinaus besonders für Ökologie oder den Feminismus einsetzen und anderen, die eine sehr traditionelle Vorstellung vom Klassenkampf haben, ebenso wie in unseren Heimatländern eine ganze Palette von Auffassungen zu den europäischen Herausforderungen gibt.

Und dennoch haben sich die 41 Mitglieder der Fraktion fast einstimmig für das Nein zum Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrages ausgesprochen. Auch hat keiner meiner Kollegen die Formulierungen kritisiert, mit denen ich in einer Debatte vor wenigen Tagen versucht habe, schematisch die Leitlinien unserer alternativen Vorstellungen zum liberalen Europa zusammenzufassen. Ich habe über fünf Dimensionen gesprochen:

Erstens, eine soziale Dimension: Die Unterwerfung der sozialen Systeme unter die Bedingungen des Wettbewerbs führt zur systematischen Unterminierung der sozialen Errungenschaften von Generationen. Das muss man beenden. Zweitens, eine ökologische Dimension:

Man muss der immer größer werdenden Versuchung widerstehen, unsere Ziele im Namen des ›Wettbewerbs in einer offenen Wirtschaft‹ zurückzuschrauben.

Drittens, eine solidarische Dimension: Man muss jede Art von Ausgrenzung ausmerzen, alle unsere Instrumente gegen die Entwicklungsunterschiede mobilisieren, sich von der ›Festung Europa‹ verabschieden.

Viertens, eine demokratische Dimension: Man muss vor allem den kritischen Geist erwecken, wagen, dem Bürger das Wort zu erteilen, die notwendigen kritischen Debatten akzeptieren.

Fünftens, eine weltweite Dimension: Man muss unser Potential nutzen, um die internationalen Beziehungen zu ändern. Wir müssen uns gegen den Krieg im Irak, für einen gerechten Frieden in Palästina, für eine echte Partnerschaft mit Afrika engagieren. Für die Beziehungen mit den USA muss der Grundsatz gelten: »Bündnispartner - Ja, Gefolgsleute - Nein!«

Das sind einfache und offensichtliche Ideen, die von vielen geteilt werden. Das ist aber gerade das Außergewöhnliche: Jede dieser offensichtlichen Ideen kollidiert mit den heutigen Konzepten für das europäische Aufbauwerk! Die Einzigartigkeit unserer Fraktion im Vergleich zu allen anderen besteht darin, dass sie sich der Lähmung durch diese unheilvolle Idee widersetzt: »Das liberale Europa - das ist Europa«! Dieses Diktat zu akzeptieren bedeutet, sich zu verbieten, über die tiefen Ursachen der sich verschärfenden Krise des Vertrauens der Bürger in die europäischen Institutionen nachzudenken.

Dieses Fehlen eines kritischen Geistes ist für Europa tödlich. Die Unfähigkeit, sich selbst in Frage zu stellen, hat zum Untergang der Sowjetunion geführt. Die gleichen Ursachen führen zu den gleichen Folgen. Nichts garantiert uns, dass langfristig die Europäische Union nicht den gleichen Gefahren entgegenstürmt, wenn die politisch Verantwortlichen es weiterhin ablehnen, die Widersprüche des heutigen Systems zu erkennen und daraus die Schlussfolgerungen zu ziehen.

Das ist der Grund, warum die Debatten anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge nicht in eine Kette von Beweihräucherungszeremonien münden dürfen, sondern Anlass für eine ehrliche Gegenüberstellung der unterschiedlichen Bewertungen der gewonnenen Erfahrungen und der verschiedenen Zukunftsoptionen sein müssen. Es ist die Verantwortung der Europäischen Linken, die festgetretenen Pfade zu verlassen und dazu beizutragen, dem spannenden europäischen Experiment eine neue Chance zu eröffnen.