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Etwas Neues im Osten

erschienen in Clara, Ausgabe 29,

DIE LINKE kann aus ihrer Geschichte lernen, dass radikale gesellschaftliche Veränderung möglich ist, wenn Menschen Gelegenheit zur politischen Selbstermächtigung erhalten, meint Tom Strohschneider.

Als unlängst Zeitungsleute auf dem Mitteldeutschen Medientag über die längst nicht mehr neu genannten Bundesländer diskutierten, war ein Hinweis immer wieder zu hören: „Der Osten als Umbruchregion, ein eigenständiges Thema, eine Erfahrungsregion sozialer Veränderung gar? Das ist doch alles Vergangenheit.“ Mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende hätten sich die Unterschiede abgeschliffen, seien neue Generationen dazugekommen, stünden inzwischen strahlende wirtschaftliche Leuchttürme in ziemlich blühenden Landschaften herum. Ohnehin würden sich die Menschen heute eher regional verorten.

Oberlausitz statt Ostdeutschland? Einspruch. Zwar ist es richtig, dass ein beträchtlicher Teil der noch in der DDR Geborenen inzwischen länger im vereinten Deutschland lebt, dass ostdeutsche Städte saniert und Straßenverbindungen zwischen ihnen vierspurig wurden. Auch ist es augenfällig, dass es auch im Westen Regionen gibt, die von einem massiven Strukturwandel durchgeschüttelt werden, und die Zahl derer nicht mehr allzu groß ist, die beim Kauf ihrer Frühstücksbrötchen noch an subventionierte Vorwende-Preise denken. Aber es gibt den Osten, er ist eine politische und soziale Realität.

Da wären die Lebensverhältnisse, deren Angleichung ein immer noch unabgegoltenes Versprechen ist. Da sind die niedrigeren durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommen, die höheren Erwerbslosenquoten, die eine Art neue DDR auf den monatlichen Datenkarten der Bundesagentur für Arbeit erscheinen lassen. Da sind beständige Diskriminierungen wie der niedrigere Rentenwert. An den Schalthebeln und auf den Chefsesseln, in den Intendanzen und so fort sind Ostdeutsche nicht einmal in Ostdeutschland in einer Zahl zu finden, die ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht.

Der Osten existiert aber nicht bloß als statistisches Jammertal fort. Sondern auch als untilgbare Erfahrung in den Menschen, als andere kulturelle Prägung, als Sprachgewohnheit, als das, was ein Buch vor Jahren einmal den „Geschmack des Ostens“ nannte.

Mehr noch: Unter den Ostdeutschen ist aufgehoben, wie die große Möglichkeit einer wirklich radikalen Veränderung unter die donnernden Räder politischer Rationalität und angeblicher Alternativlosigkeit geriet, die doch nur das Alte erweiterte: Nicht der demokratische Sozialismus, ein dritter Weg oder auch nur die bescheidene Utopie eines anderen, von den Menschen selbst gestalteten Landes wurden Wirklichkeit nach dem Jahr 1990. Sondern es wuchs sich bloß eine Bundesrepublik in Richtung Osten aus, die ihre besseren Jahre schon hinter sich hatte.

Wenn vor diesem Hintergrund ein ganz eigenes Parteiensystem entstand, eines, in dem Sozialdemokraten auch einmal einstellige Landesergebnisse erzielen und die PDS zur Volkspartei und Regierungspartnerin avancierte, ist das kaum überraschend. Akzeptiert wurde es dennoch lange Zeit nicht, was mit der Vorvergangenheit der heutigen Partei DIE LINKE eine Menge zu tun hat. Doch in vielen Kritiken an der PDS manifestierte sich auch ein schlechtes Gewissen derer, denen ein erfolgreiches parteipolitisches Ost-Gewächs ein Dorn im Auge sein musste, weil sie auf das Fortbestehen der Gründe für eine gesonderte Vertretung der Ostdeutschen verwies. Der wievielte Koalitionsvertrag war jener im Jahr 2009 von CDU/CSU und FDP geschlossene, der eine Angleichung der Renten versprach – und das dann nicht hielt?

Der Osten als Fundament

Auch im Wahlkampf 2013 wird das Lied der Angleichung der Lebensverhältnisse erneut gesungen. DIE LINKE, die das schon immer anmahnte und inzwischen zur gesamtdeutschen Partei wurde, mag das als Diebstahl politischer Ideen erscheinen – würden andere auch tatsächlich praktische Konsequenzen ziehen, ließe sich wohl damit leben. Für DIE LINKE würde dennoch nicht das Potenzial einer ganz eigenen linken, ostdeutsch begründeten Politik ausgehen.

Diese hat nichts mit konservativer Rückschau auf das als gut beurteilte DDR-Gewesene (grüner Pfeil!) zu tun. Auch nichts mit bloßer Regional-Vertretung (Ost-CSU!). Sondern mit einem Selbstbewusstsein, das sich der eigenen Rolle als Vorreiterin klar ist. In der Partei DIE LINKE ist dafür der Begriff Erfahrungsvorsprung geprägt worden: zu wissen, was tiefgreifender Strukturwandel heißt, diesen teils aktiv mitgestaltet und dabei auch Fehler bereits gemacht zu haben.

Dass die Formel vom „Erfahrungsvorsprung“ nicht als Absage an ebenbürtige Erfahrungen der Westdeutschen auch in der eigenen Partei gemeint ist, hätte in mancher Diskussion besser unterstrichen werden können. Aber unter dem Strich bleibt ein großes Potenzial für linke Politik – nicht nur im Osten: Ob es nun der Stadtumbau in den sogenannten neuen, von Bevölkerungsschwund geprägten Ländern ist, aus dem sich für die Zukunft lernen lässt, oder die Erfahrungen mit gemeinwohlorientiertem Wirtschaften oder die weit normalere Erwerbstätigkeit von Frauen.

All das lässt sich nicht ohne Weiteres verallgemeinern, das Ruhrgebiet zum Beispiel hat seine spezifischen Narben. Und natürlich gibt es auch kein ostdeutsches Modell sozial-ökologischer Veränderung, schon gar nicht einen ostdeutschen Plan, der bloß noch erfüllt werden müsste. Aus der Kritik am „Nachbau West“, den der „Aufbau Ost“ in Wahrheit darstellte, kann nicht die Schlussfolgerung gezogen werden, nun dem Westen ein politisches Fertiggericht vorzusetzen.

Das freilich steht auch gar nicht an. Die Angehörigen der „Dritten Generation Ostdeutschland“, von der heute die Rede ist, wenn die zwischen 1975 und 1985 in der DDR Geborenen gemeint sind, die erwachsen gewordenen Zonenkinder also, prägen ein anderes Politikverständnis. Linke Politik verstehen sie als eine, die den Osten als Fundament, als Verantwortung nicht leugnet und den Westen nicht zum allschuldigen Gegenkollektiv verzerrt. Es ist ein Verständnis von Politik, das von der Notwendigkeit radikaler gesellschaftlicher Veränderung ebenso überzeugt ist wie davon, dass Menschen dazu die Gelegenheit zur politischen Selbstermächtigung brauchen – und Spaß dabei haben wollen. Dafür kann linke Politik vor allem vor Ort stehen. Nicht nur im Osten.

Tom Strohschneider ist Chefredakteur der Tageszeitung Neues Deutschland. Geboren und aufgewachsen in der DDR, hat er mittlerweile die meiste Zeit seines Lebens in der Bundesrepublik verbracht.