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Erst die Demütigung, dann zehn Euro

erschienen in Clara, Ausgabe 21,

Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregierung ist ein Flop. Kaum jemand nutzt es – wer Leistungen in Anspruch nehmen will, wird bloßgestellt.

Die Armut ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Im siebten Stock des Bezirksamts Mitte in Berlin bekommt dieser Satz eine doppelte Bedeutung. 325 000 Einwohner zählt der Bezirk, 50 000 Minderjährige. 26 000 von ihnen leben von Transferleistungen, also mehr als die Hälfte. Ihre Eltern sind ALG-II-Empfänger, dazu kommen die Aufstocker. Petra Schrader ist Stadträtin für Jugend, Schule und Sport. Sie ist für diese Kinder zuständig. »Die Kinder scheitern an einem System der konsequenten Selektion in der Schule, der Freizeit, überall«, sagt sie.

Eine, die die Situation dieser Kinder in den letzten Jahren noch mehr erschwert hat, ist Arbeitsministerin Ursula von der Leyen mit ihrem Bildungs- und Teilhabepaket. Als das Paket 2010 auf den Weg gebracht wurde, versprach sie vielfältige Leistungen: 10 Euro für Vereinsmitgliedschaften und Ähnliches, 100 Euro für Lernmaterialien pro Jahr, die Erstattung eintägiger Schulausflüge, Mittel für eine verstärkte Bildungsförderung armer Kinder, finanzielle Zuschüsse zum Mittagessen bei einem Eigenanteil der Eltern von 1 Euro und die Erstattung der Schülerbeförderung.

Doch die Bilanz ist erschütternd. Zu allererst ist da das bürokratische Chaos. Erst vor ein paar Tagen hat Schraders Amt die Unterlagen zur Beantragung von Leistungen in türkischer und arabischer Sprache bekommen, acht Monate nach der Einführung des Pakets. Mittlerweile sind die Fristen für die Mittelbeantragung für das erste und zweite Quartal verstrichen. Die Software zur Verwaltung der Leistungen fehlt Schraders Amt immer noch.

Das größte Problem aber ist ein anderes: Bundesweit nimmt nicht mal jede dritte berechtigte Familie die Leistungen des Pakets in Anspruch. Zu unverständlich ist der Papierdschungel, und zu viele Demütigungen werden fällig, um selbst kleinste Leistungen für Kinder zu bekommen: Eltern müssen ihre Bedürftigkeit direkt beim Sportverein erklären, damit dieser einer Zuschussfinanzierung für ihre Kinder zustimmt. Eltern müssen dem Essensversorger ihres Kindes mitteilen, dass sie nicht mehr als einen Euro für das Essen ihrer Kinder zahlen können. Ein ums andere Mal werden sie bloßgestellt. Viele dieser Eltern scheuen selbst den Gang in die Elternversammlung, denn das System Bildungspaket ist ein System öffentlicher Demütigungen. »Schwellenangst« nennen das Sozialpädagogen. »Die Elternversammlung als Angstraum«, sagt Schrader dazu. Die, die vor diesen Gängen zurückschrecken, sind nach Schraders Worten aber dieselben, die beim Schulfest als Erste einen Kuchen backen.

Demütigungen gibt es viele – auch für Lehrer. Wenn sie den Nachholbedarf eines Kindes erkennen, müssen sie einen Antrag ausfüllen, der einer Bankrotterklärung gleichkommt: Die Schule habe demnach keine ausreichenden Angebote, und der Lehrer sei im Rahmen des Unterrichts nicht in der Lage, das Kind entsprechend zu fördern. Diese Erklärung muss anschließend an die Eltern übergeben werden, die dann Förderung beantragen dürfen. Gesichtsverlust für Lehrer und Eltern inklusive. Pikant: Die Lernförderung gibt es nur, um das Klassenziel zu erreichen. Brauchen Kinder aber eine Förderung, um in eine höhere Schulform wechseln zu können, gibt es keine Förderung. Aufstieg und wirkliche Teilhabe, sagt Schrader, seien für die Kinder im Bildungs- und Teilhabepaket nicht vorgesehen. »Zehn Euro pro Monat für die Teilnahme an Vereinen – das reicht in der Musikschule nicht mal zum Vorsingen«, hat Schrader zu hören bekommen. Schrader sagt: »Teilhabe kann man nicht kaufen, zumal nicht für zehn Euro.«