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Eine Frage der Perspektive

erschienen in Clara, Ausgabe 23,

Ilja Seifert spricht über eine Welt voller Barrieren und über Lösungsvorschläge,
 die der gesamten Gesellschaft nützen.

Sie haben die Bundesregierung nach der Barrierefreiheit von Bahnhöfen gefragt.
Was hat sie geantwortet?

Ilja Seifert: Noch sind in der Bundesrepublik 3 700 Bahnhöfe nicht barrierefrei. Gegenwärtig werden jährlich 100 bis 140 saniert. Ginge es in diesem Tempo weiter, bräuchten wir noch dreißig Jahre. Ich forderte Bahnchef Grube vor einigen Monaten auf, daraus ein Programm mit dem Ziel zu machen, bis
 2025 fertig zu sein. Das ist ambitioniert, 
aber möglich. Gleichzeitig verlangte ich, Betroffene und ihre Selbsthilfeorganisationen mit ihrem Sachverstand einzubeziehen. Sie können zusammen mit Bauleuten, Ingenieuren und Eisenbahnern originelle Lösungen entwickeln.

Sie sind einer von zwei Rollstuhlfahrern im Bundestag. Inwieweit macht Sie 
Ihre eigene Betroffenheit sensibel für dieses Thema?

Ich erlebe die Welt im wahrsten Sinne des Wortes von unten. Auf Reisen – mit dem Auto, dem Bus, der Bahn, dem Flugzeug – erlebe ich selbst, wie mannigfaltig das Barrieren-»Angebot« ist. Doch erst aus meiner tiefen Verwurzelung in der weltweiten emanzipatorischen Behindertenbewegung schöpfe ich die Kraft, mich nicht so 
leicht mit der »Sachzwangperspektive« zufriedenzugeben.

Sie sprechen von Barrierefreiheit.
 Wäre nicht der Begriff »behinderten-gerecht« passender?

Barrierefreiheit ist der übergreifende Begriff. Er impliziert das »Nutzen-für-alle-Prinzip«.
 Es geht eben nicht um Sonderregelungen 
für »Behinderte«, sondern um einfache Lösungen, die jede und jeder Einzelne bequem nutzen kann. Nehmen wir die Reichstagskuppel: Der erste Entwurf sah Treppen zur oberen Plattform vor. Ich meldete für meine Fraktion in der Kommission des Ältestenrats Widerspruch an. Nun versuchten »Fachleute«, mir zu erklären, dass es anders nicht ginge. Die Statik 
ließe keine Aufzüge zu. Eine »behinderten-gerechte« Lösung sei unbezahlbar. Ich sah das nicht ein und forderte das Architektenteam heraus: »Lasst euch etwas einfallen, etwas Originelles, etwas Elegantes!« Ich zeichnete mit der Hand eine Spirale in die Luft. Heute genießt jede Besucherin und jeder Besucher – zu Fuß, mit Kinderwagen oder im Rollstuhl – den bequemen Aufstieg über zwei sehr gelungene Rampen.

DIE LINKE hat die Bundesregierung aufgefordert, ein Teilhabesicherungsgesetz vorzulegen. Wo steckt hier der Nutzen für alle – also für Menschen mit und ohne Behinderung? 

Ganz einfach: Sonderlösungen sind teuer. Vor allem aber sondern sie ab, beziehungsweise aus. Mein Menschenbild sieht jede und jeden jedoch als gleich an Würde, Rechten und Pflichten an. Also will unser Antrag denjenigen, die am »richtigen Leben« noch immer weniger selbstbestimmt teilhaben können, erst einmal gleiche Ausgangspositionen verschaffen. Seit es
die UN-Behindertenrechtskonvention gibt, 
ist weltweit anerkannt, dass es zu den Pflichtaufgaben der Staaten gehört, volle Teilhabe zu ermöglichen. Dazu gehören maßgeschneiderte Lösungen wie persönliche Assistenz, aber auch kollektive, für alle nutzbare Maßnahmen wie die Beseitigung von Barrieren. Unser Antrag unterbreitet dafür einen konzeptionellen Vorschlag.

Und wie bezieht die Fraktion 
DIE LINKE selbst Betroffene ein? 

Wir stellen beispielsweise am 30. März 2012 unseren Antragsentwurf »Gute Arbeit für Menschen mit Behinderungen« öffentlich 
zur Diskussion. Wir laden dazu ein, Kritik 
zu äußern, Änderungsvorschläge zu unter
breiten und auf Lücken hinzuweisen. Erst danach werden wir unseren Antrag fertigstellen und in den Bundestag einbringen. Nach dem Motto der Behindertenbewegung: »Nichts über uns ohne uns.«

Ilja Seifert ist behinderten- und
 tourismuspolitischer Sprecher der Fraktion DIE LINKE


Gute Arbeit – unbehindert!
Behindertenpolitische
Konferenz der LINKEN
30. März 2012, 10 bis 17 Uhr,
Berlin, Deutscher Bundestag,
 Paul-Löbe-Haus, Raum 4.900 
Anmeldungen und weitere Informationen unter www.linksfraktion.de