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Ein ungehobener Schatz im Osten

erschienen in Clara, Ausgabe 24,

Martin Schirdewan (36) arbeitet als Ostdeutschland-Referent für die Fraktion DIE LINKE. Seine Empfehlung: Ost-Erfahrungen aus zwei Jahrzehnten Wiedervereinigung für die gesamte Gesellschaft nutzbar machen.

Um den Kopf freizubekommen, geht Martin Schirdewan schwimmen, mehrmals in der Woche. Auch an diesem Abend kommt er gerade aus der Schwimmhalle. Es ist schon spät. Doch Schirdewans Arbeitstag ist noch nicht zu Ende. Er ist auf dem Weg zu einer Veranstaltung des Netzwerks »3te Generation Ostdeutschland« in Berlin-Mitte. Es geht um die Situation junger Ostdeutscher in der Bundesrepublik. Ein interessantes Thema für ihn, der seit einem halben Jahr vertretungsweise als Ostdeutschland-Referent in der Bundestagsfraktion DIE LINKE arbeitet.

Zwei Stunden lang geht es an diesem Abend um junge Ostdeutsche, die auf der Suche nach Perspektiven ihre Heimat verlassen haben und bis heute mit unterschiedlichem Erfolg ihren Weg ins berufliche Leben beschritten haben. Weggang, Entwurzelung, Neuanfang – das haben nicht wenige der 2,4 Millionen Ostdeutschen erlebt, die zwischen 1975 und 1985 geboren wurden. Martin Schirdewan selbst gehört zu dieser »Kohorte«, wie die Sozialwissenschaftler an diesem Abend sagen. 2,4 Millionen Menschen – und alle verbindet das Jahr 1990 als Zäsur, als entscheidende Wegmarke für Karriere, Familienplanung und Wahl des Lebensmittelpunkts. Martin Schirdewans Job ist es, das politisch zu übersetzen. Für ihn ist der biografische Bruch vieler dieser jungen Menschen und damit die Erfahrung aus zwei Systemen zugleich die Brücke zwischen zwei zentralen Werten – Gerechtigkeit und Freiheit. Für Schirdewan gehört es zum Geschäft, auch abseits des Parlamentsbetriebs solche gesellschaftlichen Debatten zu verfolgen, auch wenn es – wie an diesem Abend – mal wieder spät wird. Politik ist für ihn keine Arbeit nach Stechuhr, auch wenn er am nächsten Morgen wieder auf der Matte steht – in der Bundestagsfraktion. Dann entwickelt er mit Abgeordneten aus Ost und West politische Initiativen für den Osten, prüft Anträge für das Bundestagsplenum und organisiert Fraktionsveranstaltungen.

Für Schirdewan sind die persönlichen Erfahrungen des gesellschaftlichen Umbruchs ein noch immer ungehobener Schatz. Und das, was er schätzt, damit ist er auch gern in den alten Bundesländern unterwegs – Ideen und Erfahrungen aus dem Umbruch Ost für einen geordneten Umbau West. Welche Erfahrungen wurden etwa mit der Abwicklung von alten Atomkraftwerken im Osten gesammelt? Wie gelingen die Konversion ehemaliger Militärflächen und die umweltschonende Nachnutzung von industriellen Brachen, von Berg- und Kohletagebau? Wie lebt es sich auf dem flachen Land mit einer Agrargenossenschaft, die die Felder bestellt? Über 800 gibt es davon in den neuen Bundesländern. Wirtschaftsdemokratische Betriebe, die die Versorgung ganzer Regionen sichern.

Zu diesen guten Erfahrungen der letzten 20 Jahre im Osten gesellen sich jedoch nicht wenige schlechte. Niedriglohnsektor, Deindustrialisierung und Schleifen der Städte waren Versuche auf dem Experimentierfeld Ost mit dramatischen Folgen. Schirdewans Antwort auf die heutige Strukturschwäche im Osten ist der sozialökologische Wandel. Über Innovation, Bildung und durch Fachkräfte sollen die Energiewende und nachhaltiges Wachstum ökologisch gestaltet werden. Er weiß, dass da Perspektiven, allem voran gute Arbeitsplätze entstehen können – nicht nur im Osten.

Wenn im Opelwerk in Bochum die Lichter ausgehen und in Frankfurt (Oder) die letzte Solarfabrik die Tore schließt, dann ist das Konzept eines sozial-ökologischen Umbaus in einer strukturschwachen Region nicht nur ein ostdeutscher Traum, sondern eine Idee für die ganze Bundesrepublik. Für Schirdewan kann der sozial-ökologische Umbau sogar das europäische, postneoliberale Erfolgsmodell sein. Doch dafür sind Konzepte und ein langer Atem nötig. Beides hat Martin Schirdewan.
Thomas Feske