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Ein großer Schritt ist gemacht

erschienen in Clara, Ausgabe 13,

Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn wird kommen.

Tanja Müller* kommt mit schnellen Schritten ins Cafe. Sie ist spät dran und sieht müde aus. »Ich musste noch eine Extratour fahren, ein Kollege ist krank geworden.« Die 42-Jährige, Mutter zweier Teenager, ist Briefzustellerin. Sie arbeitet für eine kleine Firma, die Geschäftspost befördert. Dafür sitzt sie fünf Tage pro Woche bis zu zehn Stunden im Auto. Eine anstrengende Arbeit. Dennoch ist sie froh darüber. Mit einem Lächeln im Gesicht erzählt sie, dass sie mit der ganzen Familie in der vergangenen Woche für ein paar Tage an der Ostsee waren. »Das war unser erster richtiger Urlaub seit Jahren. Früher ging das gar nicht, mein Mann war lange auf Hartz IV, und mein Lohn hat hinten und vorne nicht gereicht. Seitdem ich den Mindestlohn bekomme, sieht es besser aus. Große Sprünge sind natürlich nicht drin.«

Ich habe Frau Müller 2006 kennengelernt, als DIE LINKE ihre Kampagne für den gesetzlichen Mindestlohn gestartet hat. Tanja Müller hat sich engagiert. Gemeinsam mit Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern hat sie in Offenbach vor McDonald’s unter dem Motto »Nicht für ’n Appel und ’n Ei« Hungerlöhne angeprangert. Demonstrationen vor anderen Firmen folgten. Als sie auch bei ihrem eigenen Arbeitgeber die niedrigen Löhne ansprach, drohte der sofort mit Kündigung, »sollte sie die anderen Beschäftigten anstacheln«. Sie hat sich davon nicht einschüchtern lassen. Und mit ihr engagieren sich immer mehr Menschen für den Mindestlohn.

DIE LINKE hat die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn von Anfang an unterstützt. Die Mindestlohnkampagne der Partei, die vielfachen Vorstöße unserer Fraktion im Bundestag, die Initiativen von Landtagsfraktionen der LINKEN für entsprechende Anträge im Bundesrat, öffentliche Anhörungen und Aktionen - alle diese Aktivitäten haben dazu beigetragen, dass heute drei Viertel aller Menschen in Deutschland den gesetzlichen Mindestlohn befürworten. Und jeder weiß inzwischen, warum der Mindestlohn kommen muss: Millionen Menschen können trotz Vollzeitarbeit nicht anständig von ihrem Lohn leben. Die Kassiererin im Supermarkt, die mit 4,49 Euro pro Stunde abgespeist wird, genauso wenig wie der Call-Center-Agent, der mit 5,70 Euro nach Haus geht.

LINKE setzt Mindestlohn auf die Tagesordnung

Unser Engagement hat uns auch bei den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern viel Sympathie eingebracht, die seit 2005 ebenfalls mit einer Kampagne für den gesetzlichen Mindestlohn streiten. Vielfach gab es lokale Bündnisse, in denen die Gewerkschaften, DIE LINKE, Kirchengruppen, Sozialverbände und andere ihre Anstrengungen gebündelt haben.

Gemeinsam haben wir »Armut trotz Arbeit« zu einem öffentlichen Thema gemacht. Deshalb kommen auch die anderen Parteien im Bundestag nicht mehr um das Thema herum. 2005 haben sie uns noch für unsere Forderung angeprangert, allen voran die SPD. Heute stellt sie sich als glühende Verfechterin des Mindestlohns dar. Sogar eine Unterschriftensammlung hat sie gestartet, so als sei sie nicht in der Regierung, sondern in der Opposition. Auch die Grünen sind umgeschwenkt, und selbst die CDU/CSU erklärt Niedriglöhne öffentlich zu einem gesellschaftlichen Problem. Diesen Meinungsumschwung hätte es ohne DIE LINKE nicht gegeben.

Dennoch bremst die Regierungskoalition weiterhin, wo sie kann. Anträge der LINKEN wurden mehrfach abgelehnt. Auch von der SPD, die einmal sogar gegen einen Antrag stimmte, der wortwörtlich ihrem eigenen Mindestlohnaufruf entsprach. Selbst Regelungen für einzelne Branchen, in denen die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände einen Mindestlohn wollen, sind der Regierung ein Dorn im Auge. Tanja Müller hat das selbst erfahren. Als im Jahr 2007 die Gewerkschaft ver.di und der Arbeitgeberverband Postdienste einen Mindestlohn vereinbarten, versuchte die Regierung diesen zu verhindern, allen voran der damalige Wirtschaftsminister Glos. Vergeblich, die Briefzusteller bekommen heute den Mindestlohn. Tanja Müller rechnet vor: »Früher verdiente ich 6,10 Euro die Stunde. Jetzt bekomme ich 8,40 Euro. Erst wollte mein Chef nicht zahlen. Es hieß, wir wären dann zu teuer, bekämen keine Aufträge mehr, und Leute müssten entlassen werden. Tatsächlich sind wir heute genauso viele Beschäftigte wie vorher. Die Firma musste die Preise zwar etwas anheben. Die Post unserer Kunden ist dennoch nicht weniger geworden.«

Der Mindestlohn schützt die Beschäftigten und die Unternehmen gleichermaßen vor Dumpingkonkurrenz. In der Baubranche etwa ist die Meinung einhellig. Dort gibt es seit Jahren einen Mindestlohn, befürwortet von den Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Das gilt im Übrigen auch für die ausländischen Kolleginnen und Kollegen. Denn auch sie erhalten den Mindestlohn. Er schützt die Beschäftigten davor, dass sie von den Unternehmen gegeneinander ausgespielt werden.

Dumpinglöhne
mit staatlichem Siegel

Dennoch reichen Mindestlöhne für einzelne Branchen nicht aus, und der Weg dahin ist langwierig und kompliziert. Erst einmal müssen sich die Tarifparteien einigen, dann muss die Branche ins Entsendegesetz aufgenommen werden. Dann muss der Arbeitsminister per Verordnung den Mindestlohn festlegen. Das sind viele Klippen, an denen der Mindestlohn scheitern kann. In den Branchen, in denen die Arbeitgeber nicht organisiert sind, ist alles noch viel kom-plizierter. Und selbst wenn auf diese Weise überall Branchenmindestlöhne vereinbart würden, gäbe es einen Flickenteppich, bei dem niemand mehr durchsehen würde, welcher Mindestlohn wo gilt. Und kontrollieren könnte man deren Einhaltung auch kaum.

Europäische Nachbarn machen es vor

Die entscheidende Schwäche von Branchenmindestlöhnen, so wie sie jetzt möglich sind, liegt in ihrer unbestimmten Höhe. Es ist nicht garantiert, dass der Mindestlohn so hoch ausfällt, dass Menschen davon in Würde leben können. Bereits heute gibt es Tarifverträge mit sehr niedrigen Löhnen. Häufig sind dabei Scheingewerkschaften im Spiel, die im direkten oder indirekten Auftrag der Arbeitgeber die Löhne drücken. Würden solche Tariflöhne vom Gesetzgeber zu Branchenmindestlöhnen erklärt, bekämen Dumpinglöhne ein staatliches Gütesiegel. Das ist widersinnig.

Deshalb geht DIE LINKE einen anderen Weg. Wir wollen einen gesetzlichen Mindestlohn, der für alle Beschäftigten gilt, egal in welcher Branche sie arbeiten. Darüber hinaus soll es den Tarifparteien freigestellt sein, für ihre jeweilige Branche spezielle Mindestlöhne zu vereinbaren, sofern diese höher liegen als der gesetzliche Mindestlohn.

Wie hoch sollte der gesetzliche Mindestlohn sein? Wir sagen: 10 Euro. Damit liegen wir auf dem Niveau unserer westeuropäischen Nachbarn. In Luxemburg liegt der Mindestlohn bei 9,49 Euro, Frankreich hat einen Mindestlohn von 8,71 Euro, und der wird in diesem Jahr noch weiter steigen. Als stärkste Volkswirtschaft in Europa sollte Deutschland beim Mindestlohn nicht zurückstehen. Gerade auch in der Krise nicht. Jeder Euro, den die Menschen mit einem geringen Einkommen verdienen, wandert wieder in den Konsum und stärkt somit die Nachfrage. Das ist gerade ange-sichts des Einbruchs bei den Exporten ungemein wichtig.

»Mein Mann arbeitet jetzt beim Wachschutz«, erzählt Tanja Müller. »Er ist froh, dass er wieder Arbeit hat. Aber fragen Sie nicht, was er verdient. Nicht mal sechs Euro bekommt er die Stunde. Was denken die eigentlich, wie die Leute davon leben sollen?« Ich nicke. Seit 2005 sind wir dem Mindestlohn für alle ein ganzes Stück näher gekommen. Aber es bleibt noch viel zu tun.
*Name von der Redaktion geändert