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Ein Fall - tief und alltäglich

erschienen in Clara, Ausgabe 10,

Das ist die Befindlichkeit des Landes. Ein Unglück passiert, und die Dinge nehmen ihren schlechten Lauf.

Im Haus ist es kalt. Da friert man in der Küche noch am wenigsten. Die wird durch den Backofen geheizt. »Mein Name ist Anna Salmen. Ich bin 38 Jahre, verheiratet, Mutter zweier Söhne, Bürokauffrau, Arbeit suchend. Vor einem Jahr ging es uns prächtig. Mein Mann war Versicherungskaufmann und verdiente sehr gutes Geld. Ich arbeitete bei ihm als Sekretärin. Wir wohnten in einem gerade erst gekauften Haus in Remscheid. Viele Verbindlichkeiten, aber auch ein hohes Einkommen. Kinder, Haus, Büro, Auto, Leben. Wir schafften alles. Wir waren da, wo die Sonne schien. Vor einem Jahr passierte es, dass mein 46-jähriger Mann abends um halb zwölf, als wir mit Freunden zusammensaßen, nicht mehr reden konnte. Schlaganfall.«

Das kalte Haus gehört der Bank, Thomas, Annas Mann, konnte nicht mehr arbeiten. Er war einer der besten Verkäufer, aber Schlag ist Schlag. Nach der Reha kam die Angst. Psychologen kennen das. Andere interessiert es nicht. Innerhalb kurzer Zeit musste Thomas Irmsch Insolvenz anmelden. Nach europäischem Recht darf er nun nicht mehr als selbstständiger Handelsvertreter arbeiten. Selbst wenn die Angst verschwände, Anna, seine festangestellte Sekretärin, meldete sich arbeitslos. Arbeitslosengeld bekam sie nicht. Sie sei ja bei ihrem Mann angestellt gewesen, sagte man. Das klang, als stünde ihr deshalb nichts zu. Obszön also. Weihnachten 2007 bekam Thomas Irmsch sein letztes Geld.

Mit einem Schlag waren auch Freunde weg

Damals ging es noch irgendwie. Die Jungs waren 11 und 13, die Freunde der Familie mit dem Satz »Kommt erst mal auf die Beine« verschwunden. Annas Schwiegereltern halfen, wo sie konnten, manchmal rief jemand an und sagte, ohne seinen Namen zu nennen: »He, bei euch kreist ja der Pleitegeier.« Anna dachte: Keine Panik, ich werde jetzt den Laden schmeißen. »Ich war sicher, schnell einen Job zu finden. Ich bin gut, verlässlich, motiviert, ich weiß viel, und was ich nicht kann, kann ich lernen. Ich schrieb Bewerbungen. Inzwischen sind es mehr als hundert. Ich bekam Absagen. Viermal bot mir die ARGE etwas an. Zweimal Zeitarbeit. Ich bin immer hin. ›Ach, zwei Kinder, ein kranker Mann? Da sieht es wohl schlecht aus mit Überstunden bei Saturn.‹ Einmal empfahl die ARGE mir eine Firma in Remscheid, bei der sollte ich acht Wochen unentgeltlich arbeiten. Zur Probe, sagten die. Hätte ich gemacht, bat aber um einen Vorvertrag. Dann könne er sich ja nach acht Wochen keine Neue von der ARGE schicken lassen, sagte der Geschäftsführer. Recht hatte er.
Hunger. Wir hatten das erste Mal Hunger. Ich fasste zwei Beschlüsse: Ich gehe zur ›Tafel‹, um für die Kinder was zu essen zu bekommen, und ich erzähle meine Geschichte in der Öffentlichkeit. Nicht, weil sie einmalig ist, sondern eine von vielen. Und fast alle schämen sich.«
Der 12-Jährige kommt aus der Schule, der Große etwas später. Dem hat ein Freund einen Döner spendiert. Anna atmet ein und aus. Einer ist erst mal satt. Sie bittet ihren Mann, bei Ebay nach einer Winterjacke für den Jungen zu suchen. »Gestern hatte ich fast eine für zehn Euro. Das wäre gegangen.« Hauptsache, man kann den Strom bezahlen. Wenn die Küche nicht mehr mit dem Backofen zu heizen ist. Vier Wärmflaschen sind angeschafft worden. Für die Betten. Wenn Anna Arbeit hat, wird die Familie umziehen. Nicht in Remscheid. Mit Remscheid ist man fertig.

»Mein Name ist Anna Salmen. Ich habe meine Geschichte ins Internet gestellt. Steig auf den Kirchturm, habe ich gedacht, da sehen dich alle. Die sollte sich besser schämen, denken andere. Tu ich nicht. Ich kämpfe ja. Und fast alle, denen es so geht wie mir, tun das auch. Bei der ›Tafel‹ habe ich gesehen, wie schnell Armut ins Gesicht gemeißelt ist. Zahnlos ist Armut hierzulande, und sie riecht, wenn sie nur lange genug anhält. Hier stehen wir also, dachte ich, wir Sozialschmarotzer. Stehen an nach sauer gewordener Milch und schimmligem Obst. Was halt so gegeben wird oder übrig bleibt. Ein Professor aus Chemnitz hat ausgerechnet, dass solche wie ich auch mit weniger Geld klarkommen würden. Thießen heißt der Mann. Ich will mir den Namen merken.«

Armut hat viele Gesichter

Anna, Thomas und die Kinder wollen nach Dortmund ziehen. Eine kleine Wohnung genügte. Die Jungs könnten sich ein Zimmer teilen. In dieser Woche kam nach einem Bewerbungsgespräch an der Dortmunder Uni eine Absage, in der stand, dass es schwergefallen sei, abzusagen. Immerhin. Anna, die viel und oft lacht, so oft, dass man denkt, jetzt wird sie gleich zu heulen anfangen, nimmt das als gutes Zeichen. Sie malt mit den Händen ihre Figur nach und sagt: »Ich kann noch ein bisschen Hunger vertragen. Zum Glück habe ich ein paar Kilo zu viel drauf.« Am 4. Dezember - kurz vor Weihnachten - hat der Große Geburtstag. Das ist auch für eine Optimistin wie Anna ein Horror. Sie schaut, was der Kleine macht. Der sitzt vor dem Fernseher. »Komm in die Küche«, sagt Anna, »hier ist es doch so kalt.« In der Küche auch, aber so ein Backofen schafft gefühlte Wärme. Thomas Irmsch will sich selbstständig machen, wenn die Psyche dann wieder mitspielt, erzählt er. Aber erst einmal muss er zum Amtsarzt. Der wird wissen wollen, ob hier einer simuliert. Anna hat zu ihrer Geschichte auch ihr Foto ins Internet gestellt. »Wäre schon gut, wenn wir alle ein Gesicht hätten«, sagt sie. »Dann funktionierte das mit diesem Schmarotzergerede nicht mehr so.«

Hartz IV heißt im Abseits zu bleiben

In Remscheid gibt es kaum Secondhandläden. Sonst hätte man vielleicht schon eine warme Jacke für den Großen gefunden. Thomas Irmsch kommt wieder nach Hause und erzählt, er hätte eine für 39 Euro gesehen. »Geht nicht«, sagt Anna.
»Mein Name ist Anna Salmen. Ich mache gerade die Erfahrung meines Lebens. Klugheit verhindert Armut nicht und auch nicht ungebremster Tatendrang. Ich wollte als Stadtbahnfahrerin arbeiten, als Sekretärin, als Verkäuferin. Ich will mit meinem Mann zusammen wieder auf die Füße kommen. Ein Schlaganfall ist nicht das Ende, haben wir gedacht. Ich denke das immer noch. Aber mir ist klar, dass die Gesellschaft im Zweifelsfall dafür sorgen kann, dass es doch das Ende ist. Mein großer Sohn will Chemiker werden. Er ist gut in der Schule. Ich mache mir Sorgen, wie ich das mit den Schulbroten hinkriege. Und dahinter steckt die Sorge, ob ich ihm helfen kann, Chemiker zu werden.«
Die Küche in dem Haus, das der Bank gehört, wird am Ende doch ein bisschen warm. Vor kurzem sind die Stromzähler im Haus ausgetauscht worden. Jetzt hängen da welche, mit deren Hilfe kann der Strom auch aus der Ferne abgeschaltet werden. So lässt sich schnell handeln, wenn Anna ihre Rechnungen nicht mehr bezahlt. In manchen Dingen geht es hierzulande ganz unkompliziert zu.