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Der Bund beschließt, die Kommunen müssen zahlen

Von Kerstin Kassner, Katrin Kunert, erschienen in Clara, Ausgabe 31,

Katrin Kunert war zwei Wahlperioden kommunalpolitische Sprecherin der Fraktion. Jetzt übergibt sie den Staffelstab an Kerstin Kassner, Exlandrätin der Insel Rügen.

Kommunalpolitik findet vor Ort statt, weit weg von Parlamentsbeschlüssen in Berlin. Wieso greifen Bundesentscheidungen dann aber doch so tief in die Kommunalpolitik ein?

Katrin Kunert: Etwa 90 Prozent aller Bundesgesetze haben Auswirkungen auf die Kommunen. Wenn der Bund beispielsweise Großunternehmen und große Einkommen und Vermögen steuerlich entlastet, bedeutet dies weniger Geld in öffentlichen Haushalten. Seit 1998/99 erleben wir den Einbruch bei der Gewerbesteuer, den Steuereinnahmen in den Kommunen. Und weniger Geld bedeutet weniger Möglichkeiten der Gestaltung. Mit der Einführung von Hartz IV müssen Landkreise und kreisfreie Städte für die Kosten der Unterkunft aufkommen. Der Bund zieht sich aus der Finanzierung mehr und mehr zurück. Heute tragen die Kommunen mit knapp drei Viertel der Kosten die Hauptlast.

Kerstin Kassner, wie haben Sie als Landrätin auf Rügen die Folgen gespürt?

Kerstin Kassner: Nach der Einführung von Hartz IV im Jahr 2005 ganz drastisch. Betrugen bis dahin die Kosten für Unterkunft im Sozialhaushalt des Landkreises Rügen 5 Millionen Euro, waren plötzlich 18 Millionen Euro Unterkunftskosten zu schultern. Die Bundesgesetzgebung reduziert damit die Möglichkeiten der kommunalen Selbstbestimmung und verschärft das Haushaltsdefizit der Kommunen noch zusätzlich.

Sind Kommunalpolitiker als Experten zuvor angehört worden, hatten sie ein Mitspracherecht?

Kerstin Kassner: Ein direktes Mitspracherecht hatten wir bei der Hartz-IV-Gesetzgebung nicht. Nur über den Landkreistag konnten wir mittelbar Einfluss nehmen. Als positiv ist an dieser Entwicklung immerhin festzuhalten, dass sich durch die Verschärfung der Haushaltslage eine parteiübergreifende Zusammenarbeit im Landkreistag und im Städtebund entwickelt hat.

Katrin Kunert: Die Bundesregierung und der Bundestag haben die Möglichkeit der Anhörung oder des Einholens von Stellungnahmen. Oft kümmert die Bundespolitik der Sachverstand jedoch nicht. Wir sind für ein einklagbares Mitwirkungsrecht für Kommunen bei der Gesetzgebung des Bundes in allen Fragen, die die Kommunen direkt oder indirekt berühren.

Was macht dieses Überstülpen von Entscheidungen mit den Leuten, die sich vor Ort engagieren?

Katrin Kunert: Kommunalen Mandatsträgern wird de facto die Gestaltungsmöglichkeit genommen und somit auch die Motivation. Bürgerinnen und Bürger erkennen das »Verwalten des Mangels« vor Ort und entscheiden sich gegen den Gang zur Wahl bei den Kommunalwahlen. Auch wird Kommunalpolitikern die Arbeit erschwert. Hartz-IV-Beziehenden wird die ohnehin geringe Aufwandsentschädigung zum Teil als Einkommen angerechnet. Bei allen anderen zählt dies laut Steuerrecht nicht als Einkommen und führt somit auch nicht noch zu finanziellen Einbußen.

Kerstin Kassner: Die desolate Haushaltslage vieler Kommunen verdirbt den Spaß und die Freude, sich in einem Ehrenamt zu engagieren. Es sind keine Spielräume mehr vorhanden. Vor allem freiwillige Leistungen wie in der Kinder- und Jugendarbeit oder im sozialen und kulturellen Bereich bleiben bei dem Sparzwang auf der Strecke. Die Kreisgebietsreform in Mecklenburg-Vorpommern hat die Lage zusätzlich verschärft. Aufgrund noch größerer Entfernungen und des noch höheren Zeitaufwands ist ein politisches Engagement eigentlich nur noch für Rentner, hauptamtliche Bürgermeister und die öffentliche Verwaltung zu bewältigen.

Wenn Entscheidungen auf Bundesebene getroffen werden, dann müsste doch gleichzeitig die Frage der Finanzierung in den Kommunen mitgedacht werden?

Katrin Kunert: Nein, das ist ja das Problem. Der Bund hat Aufgaben in die Kommunen verlagert oder Standards festgelegt und beteiligt sich nicht angemessen an der Finanzierung. Daher muss das Konnexitätsprinzip – also »Wer bestellt, bezahlt« – in das Grundgesetz. Inzwischen sieht es so aus, dass Kommunen mit einem ausgeglichenen Haushalt Seltenheitswert haben.

Was machen diejenigen mit Nothaushalten?

Katrin Kunert: »Berater« oder »Zwangsverwalter« werden eingesetzt, finanziellen Spielraum für die kommunale Selbstverwaltung gibt es nicht mehr.

Kerstin Kassner: Es macht einfach keine Freude, immer mehr und mehr Leistungen abzubauen, zumal es vorrangig soziale und kulturelle Projekte betrifft. Dabei verkennen Bundespolitiker oft, dass beispielweise eine fehlende Prävention in der Kinder- und Jugendarbeit später höhere Kosten nach sich zieht. Viele Programme aus Bund und EU sind zwar gut für die Entwicklung, müssen jedoch durch die Kommunen kofinanziert werden. Das ist aufgrund der desaströsen Haushaltslage fast nicht mehr möglich. Das frustriert und macht kontinuierliche Entwicklungen unmöglich.

Sparen, so lautet der Appell an die Kommunen. Wo passiert das?

Kerstin Kassner: Vor allem müssen die Kommunen bei freiwilligen Ausgaben sparen. Aber auch bei ganz notwendigen Unterhaltungsmaßnahmen für Gebäude und Straßen. Wir sind auf Rügen vom Tourismus abhängig, langfristig verliert die Region durch fehlende Investitionen ihre Attraktivität und damit schließlich ihre Einnahmequelle.

Katrin Kunert: Auf der Strecke bleiben die Förderung von Kultur, Sport, der Begegnung, Beratung und dringend notwendige Investitionen in Kitas, Schulen, Sportstätten, Straßen. Die Liste für den sogenannten Investitionsstau ist mittlerweile endlos.

Wie käme man raus aus diesem Dilemma ewig klammer Kassen?

Katrin Kunert: Durch eine solide Finanzausstattung der Kommunen durch die Weiterentwicklung der Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftssteuer, die Abschaffung der Gewerbesteuerumlage, die Einführung des Konnexitätsprinzips und einen höheren Anteil der Kommunen am Gesamtsteueraufkommen. Alles in allem durch mehr Geld, damit sie alle Aufgaben, einschließlich der freiwilligen, erfüllen können.

Kerstin Kassner: Die Kommunen brauchen in erster Linie finanzielle Spielräume, das heißt, keine Projektförderung, sondern tatsächlich mehr Geld, über das sie auch selbst bestimmen können. Denn nur die Kommunen können beurteilen, wo der Schuh gerade am meisten drückt und lokal die größten Probleme liegen.

Das Gespräch führte Gisela Zimmer