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Das Märchen von den Ameisen und den Grillen

erschienen in Clara, Ausgabe 23,

Bewegende Ansprache beim Neujahrsauftakt der Fraktion: Der linke griechische Politiker Alexis Tsipras hat vor dem Zusammenschrumpfen der Demokratie
 gewarnt. clara dokumentiert die Rede in Auszügen.

 

In den letzten Jahren versuchte man in Griechenland wie in Deutschland die Menschen zu überzeugen, dass ein Märchen des griechischen Dichters Äsop wahr ist. Es ist das Märchen von der Grille und der Ameise. Ein Märchen über die arbeitsamen und strebsamen Ameisen, die den ganzen Sommer über arbeiten, während die Grillen schlafen. So hat man uns gesagt, dass Europa im Norden von Ameisen und im Süden von Grillen bewohnt wird.   Wir wurden allerdings belogen, weil Europa in seiner ganzen Breite und Länge sowohl von Ameisen als auch von Grillen bewohnt wird. Im Norden, beispielsweise in Deutschland, arbeiten die Ameisen sehr hart und haben seit mehr als zehn Jahren keine Lohnerhöhungen mehr gesehen. Gleichzeitig haben die Grillen in Deutschland, die Bankiers und Kapitalisten, ihren Profit verdoppelt und verdreifacht, während im Süden, in Griechenland und in den südlichen Ländern, die Ameisen sehr hart arbeiten. Die Arbeitnehmer in Griechenland sind die mit den meisten Arbeitsstunden, während die Grillen von ihrem Schweiß profitieren und Milliardenbeträge erhalten. Und jetzt, in Zeiten der Krise, wird den Ameisen im Norden gesagt: Jetzt müsst ihr von dem hart erarbeiteten Geld etwas an eure Brüder im Süden abgeben. Nur von all diesem Geld, das die Ameisen des Nordens zahlen, geht kein einziger Euro an die Ameisen des Südens, sondern an die Grillen des Nordens und des Südens.   Das ist die tatsächliche Dimension dieses Märchens von Äsop heute in Europa. Die Entscheidung zum Sparzwang zur Überwindung der Krise erweist sich als katastrophal. Diese Medizin ist schlimmer, schmerzhafter als die Krankheit an sich. So verbleibt die Krise nicht in den Ländern der Peripherie, sondern schlägt im Herzen der Euro-Zone zu, was wiederum die Analysen der europäischen Linken zu bestätigen scheint. Wir reden über eine Systemkrise, eine Eurokrise und eine Krise der Architektur.   Griechenland wurde auserkoren, ein Versuchskaninchen zu sein, und leider sind die Konsequenzen in meinem Land zwei Jahre nach Anwendung des Sparzwangs tragisch. Wir stehen vor einem sozialen Trümmerfeld, die Arbeitslosigkeit ist von 11 auf 24 Prozent angestiegen. Die offiziellen Zahlen zeigen, dass einer von zwei jungen Menschen unter 24 Jahren arbeitslos ist. Tausende junger Wissenschaftler werden dazu gezwungen, das Land zu verlassen, und auf den Straßen sind immer mehr Obdachlose. Trotzdem bestehen die Troika und die Regierung auf eine Weiterführung dieser Politik der harten Sparmaßnahmen mit weiteren Kürzungen bei Löhnen und Gehältern. Diese Politik ist jedoch nicht nur sozial ungerecht, sondern auch total erfolglos.    Die Staatsschulden sind in diesen Jahren nicht gesunken, sondern vielmehr rasant angestiegen. Zudem sind sie ein Instrument, um die demokratischen Errungenschaften und den Gesellschaftsvertrag in Europa abzuschaffen. Das Problem ist der Neoliberalismus, das Problem sind die Sparprogramme, das Problem ist die ungerechte Reichtumsverteilung, das Problem ist die Politik, die von Merkel und Sarkozy verfolgt wird. In der Krise befinden sich also nicht nur Griechenland und die Länder der Peripherie, sondern in der Krise befinden sich der Euro und die Architektur, auf der das alles aufgebaut wurde, sowie der Kapitalismus. Von den Ratingagenturen und den Märkten ist keine Lösung zu erwarten, sondern nur von den politischen Kräften, die zusammen mit den Völkern Europas den Ratingagenturen und den Märkten das Prädikat »Ramsch« geben werden und die ein Rating von drei »A« für die Gesellschaft etablieren. Die reiche griechische Sprache hat drei Wörter, die mit A beginnen: Solidarität, Wachstum, Beschäftigung. Diese drei »A« sind das Rating, das die Gesellschaft braucht.   Wir sollten uns dem Zusammenschrumpfen der Demokratie entgegenstellen und das Finanzsystem in den Dienst der Gesellschaft und nicht des Profits stellen. Wir sollten den Reichtum besteuern und nicht die Armut. Wir sollten eine andere Rolle für die Europäische Zentralbank fordern, sodass diese Geld direkt an Staaten und nicht an private Banken verleiht. Wir sollten ein Mehrparteientreffen für die Zukunft Europas fordern nach dem Vorbild des Abkommens, das es 1953 für Deutschland gegeben hat, als 50 Prozent der Schulden gestrichen und die restlichen zurückgezahlt wurden, aber nur unter der Voraussetzung, dass es Wirtschaftswachstum gibt.    In Griechenland haben wir einen sehr wichtigen Intellektuellen; er lebt leider nicht mehr: Nicos Poulantzas. Er hat in den 70er Jahren sehr prophetisch gesagt, dass Sozialismus entweder demokratisch sein oder nicht existieren wird. Heute können wir sagen, dass das vereinigte Europa entweder demokratisch und sozial solidarisch sein oder nicht existieren wird.   Alexis Tsipras ist Vorsitzender der Linksfraktion SYRIZA im griechischen Parlament.