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Das deutsche Wunder

erschienen in Clara, Ausgabe 21,

In Belgien protestieren Gewerkschafter gegen deutsche Lohndrückerei. »Helft Heinrich«, fordert die christliche Gewerkschaft Belgiens ACV. Heinrich, deutscher Arbeitnehmer und Gesicht der belgischen Plakatkampagne, verdient 4,81 Euro pro Stunde. Heinrich ist ein Beispiel von vielen: Die Niedriglohnschwelle liegt in Deutschland laut statistischem Bundesamt bei 9,85 Euro. Im Jahr 2009 haben bundesweit 22,3 Prozent der Vollzeitbeschäftigten für Niedriglöhne gearbeitet. Über 358000 Vollzeitbeschäftigte mussten ihre kargen Löhne mit Hartz IV aufstocken.

Das eigentliche Wunder besteht darin, wie sich das politische Establishment der Bundesrepublik gegen die berechtigte Forderung eines gesetzlichen Mindestlohns für alle Branchen sperrt: Union und FDP lehnen ihn ab, SPD und Grüne fordern ihn lediglich, solange sie in der Opposition sind. Verwunderlich ist das nicht nur, weil der Mindestlohn in über 20 Ländern der EU erfolgreich eingeführt worden ist und gezahlt wird, sondern auch, weil er politisch geboten und wirtschaftlich sinnvoll zugleich ist. Die Tatsache, dass heute mehr Menschen denn je trotz Vollzeitbeschäftigung Leistungen im Rahmen des Arbeitslosengeldes II beantragen müssen, ist ein gesellschaftspolitischer Skandal. Doch der Mindestlohn würde den Staat auch steuerlich entlasten. Mit einem gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro, wie ihn DIE LINKE fordert, würde sich das Einkommen von 7,7 Millionen Menschen um insgesamt 26,4 Milliarden Euro erhöhen. Damit stiegen die Einnahmen aus der Einkommenssteuer um 5,3 Milliarden Euro. Mit höheren Löhnen würden dann auch die Sozialabgaben steigen; die Sozialversicherungen würden knapp

5 Milliarden Euro mehr einnehmen. Die öffentlichen Kassen würden mit der Einführung des Mindestlohns um Transferleistungen, also etwa Wohngeld und Kinderzuschlag, in Höhe von 2,5 Milliarden Euro entlastet. Dies, sowie die Steigerung der Einnahmen der sozialen Sicherungssysteme und höhere Steuereinnahmen aus der Einkommenssteuer würden 12,8 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen spülen.

Dass Mindestlöhne Arbeitsplätze kosten, ist inzwischen widerlegt. Die Einführung von Mindestlöhnen in Frankreich, Großbritannien oder den USA hat keinen Beschäftigungsabbau zur Folge gehabt, wie Studien belegen. Vielmehr würde ein Mindestlohn die Binnenkaufkraft steigern, die Wirtschaft ankurbeln und Arbeitsplätze schaffen. Es wäre eine Trendumkehr in der Politik, die in den letzten Jahrzehnten nur auf den Export starrte und in Anbetracht der Krise auf den internationalen Märkten vor einem unlösbaren Rätsel steht. Dabei ist dieses Rätsel lösbar, und es bedarf dazu auch keines deutschen Wunders, sondern vielmehr europäischer Normalität. Der Mindestlohn ist eine reale Alternative. DIE LINKE kämpft für seine Einführung genauso wie die christliche Gewerkschaft in Belgien, denn nicht nur Heinrich hat mehr verdient.