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Bauplan für Gerechtigkeit

erschienen in Clara, Ausgabe 11,

Für eine Gesellschaft ist ihre Verfassung nicht nur Bauplan und Betriebsanleitung. Sie muss auch als Reparaturhilfe taugen.

Als die Mütter und Väter des Grundgesetzes den Bauplan für die westdeutsche Gesellschaft entwarfen, taten sie das inmitten einer Trümmerlandschaft. Der Krieg, den Hitlerdeutschland in die Welt getragen hatte, war zurückgekehrt. Er brachte Tod, Leiden, Hunger und Elend heim. Die Industrie war zerstört, die Landwirtschaft lahmgelegt, die Infrastruktur am Boden. Alles sprach dafür, dass Deutschland für sehr lange Zeit ein wirtschaftlich armes Land bleiben würde. Nichts sprach für ein Wirtschaftswunder. Die Verfassungseltern der Jahre 48/49 rechneten nicht mit Wundern. Sie rechneten mit dem Schlimmsten. Welche Verfassung also gibt man einer elenden Trümmerwelt?

Die Mutigen der ersten Stunde entschieden sich für eine soziale Verfassung. In gleichem Rang mit Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus fügten sie den Sozialstaat als tragendes Element in das neue Staatsgebäude ein: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«, heißt es in Artikel 20, Absatz 1. Auch die einzelnen Bundesländer verpflichteten sie in Artikel 28 auf den Grundsatz des »sozialen Rechtsstaats«. Damit beließen sie es im Wesentlichen. Weder präzisierten sie die Pflicht des Staates zur sozialen Aktivität, noch schufen sie einklagbare soziale Grundrechte für die Bürgerinnen und Bürger. Es fehlte ihnen nicht an Mut. Man vermied nur Übermut. Man suchte ein Optimum zwischen Ruinen.

Der Bauplan wurde umgesetzt. Die Zukunft brachte nicht Armut, sondern riesigen gesellschaftlichen Reichtum. Die Bundesrepublik wuchs aus der Asche zu einer der stärksten Wirtschaftsmächte der Welt heran. In diesen Jahren wurde der Bauplan der Verfassung allmählich zur Bedienungsanleitung. Das neue Staatswerk stand zwar stabil. Es kam aber nun darauf an, es auch sozial richtig zu handhaben. Denn jenseits der Grenze versprach ein zweites Deutschland ein Paradies der Gleichheit.

Mit der Verfassung aber verhielt es sich nicht anders als mit anderen Bedienungsanleitungen. Die sozialen Anweisungen waren viel zu knapp gehalten und daher unverständlich. Man muss als Laie Fachverstand mitbringen, um sie richtig zu verstehen. Über den nötigen verfassungsrechtlichen Fachverstand verfügte das Bundesverfas-sungsgericht. Schon am 17. August 1956 notierten die Richter des Bundesverfassungsgerichtes: »Die freiheitliche Demokratie ist von der Auffassung durchdrungen, dass es gelingen könne, Freiheit und Gleichheit der Bürger trotz der nicht zu übersehenden Spannungen zwischen diesen beiden Werten allmählich zu immer größerer Wirksamkeit zu entfalten und bis zum überhaupt erreichbaren Optimum zu steigern.«

Dabei war das Gericht in dieser Entscheidung überhaupt nicht gehalten gewesen, über den Inhalt des Sozialstaates zu be-finden. Die Passage entstammt vielmehr der Begründung eines Urteils, mit dem
das Gericht die Kommunistische Partei Deutschlands verbot. Der Zusammenhang liegt auf der Hand: Das Gericht versprach der Gesellschaft, dass es unnötig sei, für das Ziel sozialer Gleichstellung den demokratischen Staat zu stürzen. In einem reichen Land ist das Optimum zwischen Freiheit und Gleichheit schließlich viel mehr als ein Almosen und der Reichtum immer auch Allgemeingut. Dies war der Leitgedanke, der bis weit in die 80er Jahre Früchte trug. Die Renten stiegen auf ein erträgliches Maß. Die Krankenversorgung verbesserte sich stetig. Die Unterstützungsleistungen für Arbeitslose und Berufsunfähige entwickelten sich günstig. Der Staat geizte nicht bei der Förderung der Bildung der sozial Schwächeren. Die Schichten der Gesellschaft wurden durchlässiger und der Gegen-satz zwischen Arm und Reich klaffte weit weniger stark auseinander als heute. Die Bundesrepublik fand nie zu einem Optimum bei der Vermittlung von Freiheit und Gleichheit. Sehr viel schlimmer aber ist, dass sie die Suche nach diesem Optimum plötzlich aufgab.

Im Herbst 1989 stürzten die Menschen in der DDR den real existierenden Sozialismus und damit das Konkurrenzmodell zur Bundesrepublik. Als sie im Frühjahr 1990 die Wiedervereinigung forderten, entschieden sie sich nicht nur für Freiheit. Sie votierten für Freiheit in sozialer Sicherheit. Die geschichtliche Ironie ist bitter: Im hitzigen Wettrennen der Systeme um die soziale Zufriedenheit ihrer Menschen fiel die Bundesrepublik sofort in einen nachlässigen Bummelschritt, als sie das Ausscheiden ihres Konkurrenten notierte und drehte dann einfach um: Ab Mitte der 90er Jahre setzte ein massiver Rückbau sozialer Leistungen ein. Die soziale Verfassung schrieb man einst unter den allerschlimmsten wirtschaftlichen Bedingungen. Nun sollten die behaupteten Bedürfnisse einer blühenden Wirtschaft herhalten, um Sozialabbau zu rechtfertigen. Die Staatsdoktrin der neoliberalen Politik wurde die Brotkrumentheorie: Man müsse die Tische der Reichen füllen, bis sie sich biegen - dann fielen auch allemal genug Krümel in die Münder der Armen hinab. Die Brotkrumentheorie besagt: In einer weltweiten Finanzkrise muss man wieder viel Brot auf die Tische der Unternehmer stellen, sonst fehlt es an Krümeln für die Arbeitnehmer. Nur von der gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Brotes handelt diese Theorie schon im Ansatz nicht. Sie hat nichts zu tun mit der Suche nach dem Optimum zwischen Freiheit und Gleichheit. Sie ist die Verachtung dieser Suche. Wer aber die Bedienungsanleitung der sozialen Gesellschaft verachtet, der zerstört sie bei laufendem Betrieb.

Für eine Gesellschaft ist ihre Verfassung nicht nur Bauplan und Betriebanleitung. Sie muss auch als Reparaturhilfe taugen. Man muss ihr konkret entnehmen können, wie man begangene politische Fehler an welcher Stelle behebt. Doch - wir erinnern uns - unsere Verfassung wurde in einer elenden Trümmerwelt geschrieben. Ihr sozialer Gehalt wurde erst später über die langen Jahre des Systemstreits entwickelt und ist verstreut über Tausende von Gerichts-entscheidungen, die schwer zu finden und sehr leicht zu missachten sind. Zudem verlangt sie von Laien Fachverstand.

Deshalb wurde innerhalb der Arbeitsgruppe Rechtspolitik der Fraktion DIE LINKE. im Deutschen Bundestag ein Gesetzentwurf erarbeitet, der das Sozialstaatsprinzip in der Verfassung verbindlich und klar konkretisiert. Wir hoffen hierzu auf eine breite gesellschaftliche Diskussion. Der vorliegende Entwurf sieht eine staatliche Verantwortung zur Herstellung einer gerechten Sozialordnung und die Pflicht vor, für die dazu erforderlichen Einnahmen zu sorgen. Ein neues Gleichbehandlungsgebot untersagt Diskriminierungen wegen der sozialen Stellung eines Menschen. Bestehende Benachteiligungen sind zu beseitigen. Ein sozial gerechtes Verfahrensrecht soll für Chancengleichheit vor den Gerichten sorgen. Einrichtungen und Aufgaben der Daseinsvorsorge (Energie, Wasser, Bahn etc.) könnten nicht weiter privatisiert werden. Erfolgte Privatisierungen sind rückgängig zu machen. Insbesondere Banken und Versicherungsunternehmen dürfen sozialisiert werden, wenn es das allgemeine Wohl erfordert.

Wir kennen die derzeitigen Mehrheitsverhältnisse im Deutschen Bundestag. Doch die Suche nach der humanen Zukunft beginnt immer mit der Hoffnung. Wir müssen diese Suche in der Bundesrepublik wieder aufnehmen: Die Suche nach dem Optimum zwischen Freiheit und Gleichheit auf der nach oben offenen Gerechtigkeitsskala.