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Asoziale Bereicherungsorgien und politische Fehlentscheidungen

erschienen in Clara, Ausgabe 21,

Ein Interview mit Dr. Wolfgang Hetzer, Finanzexperte und Buchautor

In diesen Wochen wimmelt es von Katastrophenmeldungen: »Weltbörsen stürzen ab.« »DAX fällt auf tiefsten Stand.« Überrascht Sie dieser Alarmismus?

Wolfgang Hetzer: In der Öffentlichkeit ist der Eindruck entstanden, dass die bisherigen Versuche zur Rettung des Euro sich zu einer Kette gebrochener Versprechungen aneinanderreihen. So konnte weder auf den Finanzmärkten noch in der Bevölkerung das notwendige Vertrauen in die Entschlossenheit und Kompetenz der Verantwortlichen entstehen. Selbst Bundespräsident Christian Wulff äußerte scharfe Kritik am Krisenmanagement der Politik. Anlage- und Investitionsentscheidungen auf den internationalen Finanzmärkten sind jedenfalls nach wie vor durch Unsicherheit und Nervosität geprägt. Wirtschaftliche Rationalität dankt immer mehr ab, und die Angst vor weiteren Verlusten scheint das Kommando zu übernehmen. Das alles konnte aber nicht wirklich überraschen. Die Entwicklung ist eine durchaus vorhersehbare Folge eines Geschäftsmodells, das trotz mancher Anstrengungen der Politik, etwa im Bereich der Leerverkäufe, im Wesentlichen unverändert weiter praktiziert wird. Es fehlt nach wie vor an einer im guten Sinne »radikalen« Problembehandlung.

Aus der Banken- und Finanzkrise ist eine »Staatsschuldenkrise« geworden. Das entlässt die Banken aus der Verantwortung. Wer hat daran – jenseits der Banken selbst – Interesse?

Am Anfang stand in vielen Staaten der Welt eine unverantwortliche Politik der Schuldenaufnahme. Bestimmte Entscheidungen, etwa der Beitritt mancher Länder zur Europäischen Union und zur Eurozone, haben dort den Zugang zu viel billigem Geld eröffnet und Zinsen sinken lassen. Damit waren natürlich zahlreiche Versuchungen verbunden. Verantwortungsbewusste Haushalts- und Fiskalpolitik wurde von dem Glauben abgelöst, dass Geld quasi vom Himmel fällt. Die Ethik der Leistungsgesellschaft wurde von der Raffgier einer Erfolgsgesellschaft abgelöst, in der falsche politische Priorisierungen und administratives Versagen einzelner Cliquen ungeheure Bereicherungsmöglichkeiten eröffnet haben. Man kann den Banken zunächst einmal nicht vorwerfen, dass sie die mit dieser Entwicklung verbundenen Möglichkeiten zu ihren eigenen Gunsten genutzt haben. Es sind vielmehr die strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen – wie groteske Kreditierungsmöglichkeiten, Aufsichtsdefizite, Interessenkonflikte, Deregulierung des Derivatehandels, Technisierung und vieles andere mehr –, die auf verschiedenen Ebenen asoziale Bereicherungsorgien und darwinistisch inspiriertes Konkurrenzdenken provoziert und intensiviert haben. Die Banken sind aber keineswegs aus der Verantwortung entlassen. Sie haben aus ihrer Sicht zwar ihre eigenen Interessen verfolgt, aber Politik und Gesellschaft waren damit sehr einverstanden, solange der Eindruck bestand, man könnte aus Dreck Gold machen. Auch die Eliten in Gesellschaft und Politik haben sich in einem korrumpierenden Erwartungshorizont bewegt, in dem Inkompetenz und Ambition in verheerender Weise zusammenwirkten. Das alles hat sich über Jahre einander wechselseitig verstärkend hochgeschaukelt. Mit einem »Schwarzer-Peter-Spiel« lässt sich das jetzt nicht mehr vertuschen.

Wieder gut dabei sind die durch nichts als ihre eigene Existenz legitimierten US-amerikanischen Ratingagenturen. Welche Funktion haben sie?

Man sollte zunächst nicht vergessen, dass sich der Gesetzgeber zum Teil die Suppe selbst mit eingebrockt hat, weil er in bestimmten Fällen die Beteiligung von Ratingagenturen, etwa zur Feststellung des »Investment Grade«, rechtlich verbindlich vorgeschrieben hat. Die Agenturen geben ihre Einschätzungen zur wirtschaftlichen Lage von Wirtschaftsteilnehmern und Akteuren auf den Finanzmärkten wieder. Das tun sie in einem Medium der Verantwortungslosigkeit, weil sie nach ihrem eigenen Verständnis nur Meinungsäußerungen von sich geben. Dafür lassen sie sich allerdings von den zu bewertenden Subjekten bezahlen. Die Gefahr von Interessenkonflikten ist also evident.

Welchen Sinn gibt es angesichts dessen, eine europäische Ratingagentur zu gründen?

Die Gründung einer europäischen Ratingagentur wäre schon alleine deshalb sinnvoll, weil sie das bestehende US-Oligopol etwas stören könnte. Zusätzlich müssten aber weltweit etliche weitere Änderungen erfolgen, damit die Analysen der Agenturen sich vom manipulationsträchtigen Wunschdenken ihrer Kunden besser trennen lassen. Hier gäbe es noch sehr viel zu tun.

Ihre Kritik am gegenwärtigen Finanzsystem bündelt sich in den Begriffen »Systemkriminalität« und »Systemkorruption«. Wofür stehen sie?

Die Begriffe stehen für das Produkt aus politischen Fehlentscheidungen, wirtschaftlicher Inkompetenz und krimineller Energie.

Die Bereicherungsorgien der Finanzwirtschaft sind beispiellos. Was treibt die Akteure an?

Es ist leider unklar geworden, ob die Frage nach der Motivation im Spektrum normalpsychologischer Ansätze zu beantworten ist, oder ob es dazu psychiatrischer Fachkenntnisse bedarf. Immerhin glaubt der ein oder andere Investmentbanker, zum Beispiel der Firmenchef von Goldman Sachs, Lloyd C. Blankfein, dass er Gottes Auftrag erfüllt, wenn er die Gewinne seines Instituts maximiert. Es gibt Anzeichen dafür, dass sich im Finanzmilieu zunehmend narzisstisch gestörte Persönlichkeiten betätigen, die nicht nur durch persönliche und unbegrenzte Gier angetrieben werden, sondern aufgrund kultureller Heimatlosigkeit und emotionaler Verelendung jedes Gespür für die Balance eines Systems und die Erfordernisse des Gemeinwohls verloren haben, wenn sie es denn je hatten. Sie scheinen nicht einmal mehr erkennen zu können, dass sie mit ihrem Verhalten letztlich die Voraussetzungen infrage stellen, die sie selbst benötigen. So konnte ein Amalgam aus Zerstörungsabsichten gegenüber den Mitmenschen und unbewusstem Selbstvernichtungsstreben entstehen. Aber das ist offensichtlich nur eine amateurhafte tiefenpsychologische Spekulation. Die Wirklichkeit dürfte banaler sein: Reichtum ist zum Lebenssinn geworden, der sich in gefährlicher Asozialität konkretisiert.

Wie kann diesen White-Collar-Crimes, an denen organisierte Kriminalität, Politik, Finanzwirtschaft, Medien beteiligt sind, Einhalt geboten werden?

Mit der Verwendung des Begriffs »Finanzkrise« finden Neutralisierungen und Täuschungen in einem öffentlichen Diskurs statt, der den Eindruck erweckt, als ob das System der globalen Kapitalmärkte nur einer vorübergehenden Funktionsstörung ausgesetzt und die strafrechtlich zurechenbare Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger bedeutungslos sei. Die Geldpolitik mancher Notenbanken und unzureichendes Risikomanagement in zahlreichen Finanzinstituten haben die Bedingungen geschaffen, unter denen selbst das Finanzgebaren großer Investmentfirmen zunächst von Selbsttäuschung und dann von manipulativen Maßnahmen geprägt wurde, die schließlich in manchen Fällen den Verdacht systematischen und organisierten betrügerischen Verhaltens begründet haben. Umso bedauerlicher ist die anhaltende Ungewissheit darüber, ob die Anwendung des Strafrechts gegenüber einzelnen Verantwortungsträgern in Wirtschaft, Finanzindustrie und Politik geeignete präventive und repressive Wirkungen haben könnte. Der Klärungsprozess im Hinblick auf einschlägige rechtsstaatliche Strafbarkeitsvoraussetzungen und sinnvolle Sanktionen hat leider noch nicht richtig begonnen.

Die Ideologie dieser »Krise« ist der Neoliberalismus. Welche politischen Protagonisten haben sich in Deutschland besonders hervorgetan, dem Neoliberalismus zum Durchbruch zu verhelfen?

Die Verantwortlichen sind in fast allen Parteien zu finden. Die Politik hat sich insgesamt von der Finanzindustrie am Nasenring über die Weltbühne ziehen lassen. Ideologische Unterschiede haben in diesem Zusammenhang keine entscheidende Rolle gespielt. Bedeutungsvoller waren fachliche Inkompetenz, krankhafte Gier, eitles Geltungsbedürfnis, feige Willfährigkeit, mangelnde konstruktive Fantasie, Defizite an Führungs- und Entschlusskraft, aber auch die Gleichgültigkeit einer durch mediale »Blödmaschinen« (Markus Metz, Georg Seeßlen) geistig entmündigten Bevölkerung, in der die Geschlechts- und Ausscheidungsorgane einer Frau mittleren Alters mehr literarisches Interesse auslösen als das Schicksal ganzer Volkswirtschaften und nachwachsender Generationen. Wir sind also genau in der »Krise«, die wir verdient haben. Dieser Begriff ist jedoch irreführend, da es sich in Wahrheit nicht um eine zeitweilige Störung handelt, sondern um den systematisch angelegten Zerfall ganzer Kulturen und Zivilisationen, zu dem wir alle Beiträge leisten.

Das Interview führte Kathrin Gerlof.

Dr. Wolfgang Hetzer, Jurist, Jahrgang 1951, ist Autor des Buchs »Finanzmafia – Wie Banker und Banditen unsere Demokratie gefährden«. Er arbeitet seit Jahrzehnten als Bundesbeamter in verschiedenen Bereichen (unter anderem Finanzen, innere und äußere Sicherheit, Europa). Derzeit arbeitet Wolfgang Hetzer im Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung in Brüssel, davor war er Referatsleiter im Bundeskanzleramt und dort für die Aufsicht über den Bundesnachrichtendienst (BND) zuständig. »Dieses Interview enthält nur persönliche Auffassungen und verpflichtet die Europäische Kommission in keiner Weise.«