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Arm trotz Arbeit

erschienen in Klar, Ausgabe 30,

Für Millionen in Deutschland ist das bittere Realität geworden, selbst im Wirtschaftswunder-Bundesland Bayern

Der Freistaat Bayern, so prahlen CSU und FDP, gehöre zu den wirtschaftlich stärksten Regionen Europas und biete Arbeitnehmerinnen und -nehmern beste Beschäftigungsperspektiven. Doch die Realität sieht anders aus: Immer mehr Menschen arbeiten hart und sind trotzdem arm.

So auch Meike Richter (38). Sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern, wohnt bei Hof in Oberfranken. Jahrelang hat sie die Familie mit Minijobs ernährt. Seit die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, arbeitet sie wieder in Vollzeit.

Ihr Arbeitsplatz ist ein Callcenter in Bayreuth. Für Versandhäuser nimmt sie Bestellungen und Reklamationen entgegen.

"Das kann stressig sein, denn die Leute rufen ja nicht an, weil sie zufrieden sind", sagt Meike Richter. Trotzdem: Meike Richter arbeitet hochmotiviert, nimmt auch Schicht- und Wochenendarbeit und lange Wege mit 200 Euro Benzinkosten im Monat in Kauf.

Im Jahr 2010 fing sie mit einem befristeten Vertrag und 6,10 Euro Stundenlohn an. Nun liegt der Lohn bei 7,60 Euro. "Die Arbeitsbedingungen wären erträglich, wenn die Bezahlung nur nicht so bescheiden wäre", sagt Meike Richter. Sie sehnt sich nach einem gesetzlichen Mindestlohn.

Nur dank Wohngeld kommt die Familie durch den Monat. Aber: "Es darf nichts Unvorhergesehenes passieren, Kühlschrank oder Computer dürfen nicht kaputtgehen." Besser bezahlte Arbeit gibt es kaum in der Region. Die Arbeitsagentur vermittelt fast nur Leiharbeits- oder 400-Euro-Jobs. "Manche im Callcenter haben Biologie oder Psychologie studiert und finden hier nichts Besseres", sagt Richter.

Meike Richter ist keine Ausnahme. Bayernweit ist der Anteil der Niedriglöhner in Vollzeit auf 18 Prozent gestiegen. "Immer mehr Menschen arbeiten und bleiben arm", sagt Matthias Jena vom DGB Bayern: "Der Arbeitsmarkt franst immer mehr aus, Arbeitsplätze werden ausgelagert und immer häufiger Niedriglöhne gezahlt."

Wie in Bayern so in Deutschland insgesamt. Solche Zustände möglich gemacht haben vor allem die Arbeitsmarktreformen der Bundesregierung aus SPD und Grünen in den Jahren 2003 und 2004. Diese sollten den Menschen angeblich den Weg in gute Arbeit erleichtern, vor allem über eine Deregulierung des Arbeitsmarktes. Bis dahin eher randständige Phänomene wie Minijobs und Leiharbeit wurden zu einer Realität für Millionen.U

nd ihre Zahl wächst beständig. Allein bis Ende 2010 stieg die Zahl der Beschäftigten in Deutschland mit Niedriglöhnen auf zirka acht Millionen. Besonders stark stieg auch die Zahl der Leiharbeitskräfte – seit dem Jahr 2003 hat sie sich beinahe verdoppelt und liegt derzeit bei knapp einer Million.

Einer dieser Leiharbeiter ist Jörn Weichold (47). Er lebt im Speckgürtel um München. Der gelernte Gärtner und Heilerziehungspfleger betreut behinderte Menschen. Das macht er gern. Dafür nimmt er auch aufreibende Wechselschichten und lange Wege quer durch München hin.

Eigentlich ist der Bedarf an qualifizierten Kräften so riesig, dass engagierten Pflegern wie ihm die Arbeit nie ausgeht. Aber er und viele andere in der Branche kommen nicht aus dem Teufelskreis der Leiharbeit heraus. In viereinhalb Jahren war Weichold schon für sechs verschiedene Zeitarbeitsfirmen tätig. Mit jedem Tag schwindet seine Hoffnung auf Übernahme in eine Festanstellung weiter. "Da kann man sich krummlegen, wie man will. Das kann doch kein Dauerzustand sein", sagt Weichold.

Sein Schicksal teilen viele Menschen in Deutschland – bundesweit wird nur jeder sechzehnte Leiharbeiter irgendwann unbefristet im Einsatzbetrieb übernommen.
Als Leiharbeiter bezieht Jörn Weichold für die gleiche Arbeit pro Monat gut 200 Euro brutto weniger als die Festangestellten. Das wurmt ihn.

Weil er nicht weiß, ob der Auftrag für seine Zeitarbeitsfirma verlängert wird und er bald wieder auf der Straße steht, kann er Alltag und Privatleben, Urlaub und Freizeitaktivitäten nie längerfristig planen.

Aber auch in Bayern gibt es Widerstand gegen Lohndumping und Leiharbeit – teilweise mit Erfolg. In etlichen Molkereien wurden kürzlich Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter unbefristet übernommen. Bei Curamik Electronics in der Oberpfalz erhalten Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter den gleichen Lohn und bekommen nach zwölf Wochen eine Anstellung in der Stammbelegschaft angeboten.

Auf Dauer führt aber kein Weg an einem gesetzlichen Mindestlohn und einer Rücknahme aller Gesetze vorbei, die den massenhaften Missbrauch von Leiharbeit erst ermöglicht haben. Nur so kann auch der Alltag von Meike Richter und Jörn Weichold erträglicher werden.

Hans-Gerd Öfinger