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Amazon, der Hütchenspieler

erschienen in Clara, Ausgabe 36,

Seit Jahren ignoriert der Versandhändler Amazon die Forderungen seiner  Beschäftigten – mit Hightech und Kaltschnäuzigkeit. Doch auch das hat Grenzen.

 

Amazon ist der dickste Fisch im Versandhandel. Doch bei Löhnen und Arbeitsbedingungen will der US-Konzern kein Händler sein und weigert sich, den Tarif für den Versandhandel zu zahlen und auch sonst irgendeinen Tarifvertrag abzuschließen. Seit über zwei Jahren kämpfen die mehr als 10.000 Beschäftigten des Handelsriesen in Deutschland gegen diese Ungerechtigkeit. Es könnte einer der längsten Arbeitskämpfe seit Jahren werden.

Rückblende: Irgendwann im April 2013 hatten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Amazon die Nase voll. Seit Monaten verweigerte ihr Unternehmen strikt Tarifverhandlungen mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, lehnte eine Tarifbindung ab und wollte – obwohl schon damals der größte Versandhändler Deutschlands – nicht nach dem Tarif des Einzel- und Versandhandels zahlen. Für die Beschäftigten bedeutete das nach Gewerkschaftsangaben damals einen finanziellen Verlust von bis zu 9.000 Euro im Jahr. Kein Wunder, dass schließlich eine große Mehrheit für Streik stimmte. Und so legten erstmals im Mai 2013 im hessischen Bad Hersfeld rund 600 und in Leipzig rund 500 Amazon-Beschäftigte die Arbeit nieder.

Andere Standorte folgten, und seit mehr als zwei Jahren hat sich eine wahre Streikschlacht zwischen dem Konzern und der Belegschaft entwickelt. Trotzdem lehnt Amazon bis heute Verhandlungen mit der Gewerkschaft ab, will keine verbindlichen Festlegungen über Löhne und Arbeitsbedingungen. Vielmehr setzt Amazon in dem Konflikt, der inzwischen sieben seiner neun deutschen Standorte erfasst hat, auf Hightech und eine Kaltschnäuzigkeit, die selbst in unzähligen Arbeitskämpfen erfahrene Gewerkschafter staunen lässt.

Warum die Streiks nicht immer auf den ersten Blick jene Wirkung haben, die sie eigentlich angesichts der Häufigkeit erzielen müssten, weiß Stefan Najda, Gewerkschaftssekretär im Fachbereich Handel der ver.di-Bundesverwaltung. „Amazon kann per Knopfdruck zumindest einen Teil der Warenströme zwischen Standorten verschieben“, sagt Najda. Wird ein Versandzentrum, im Amazon-Jargon „Fulfillment Center“, bestreikt, schickt die Münchner Zentrale CDs, Toaster oder Bücher aus einem anderen Lager – und lenkt die Warenströme kurzerhand um. Amazon agiert wie ein Hütchenspieler: Bestreikt die Gewerkschaft einen Standort, müssen die Waren, wie beim Hütchenspielen das Kügelchen, in ein anderes Hütchen, sprich Lager.

Konkurrenz durch Standorte in Polen

Eine wachsende Rolle spielen dabei Versandzentren, die Amazon in Osteuropa hochzieht, bisher zwei in Polen, ein weiteres in Tschechien. Ein zweites tschechisches Zentrum ist nahe Prag im Bau, weitere sind in Planung. „Die Standorte bedienen vor allem den deutschen Markt. In Polen und Tschechien hat Amazon noch keine eigenen Vertriebsseiten“, berichtet Najda. In Polen wird laut ver.di ein Viertel des hiesigen Lohns bezahlt, etwa 400 Euro im Monat. In Tschechien liegt der Mindestlohn nach Medienberichten gar nur bei 330 Euro. Und offenbar schafft es der Konzern, einen guten Teil der höheren Transportkosten an Dritte weiterzugeben. So klagten deutsche Verlage jüngst, Amazon bestehe auf kostenfreie Lieferung in polnische Lager. 40 Prozent des Liefervolumens sollen nach Angaben des Börsenblattes des Deutschen Buchhandels dorthin verschoben werden.

So lassen sich vom US-Konzern beste Profite machen, und nebenbei schürt das auch die Angst der deutschen Beschäftigten vor dem Verlust des Arbeitsplatzes. Auch wenn es offiziell beim Konzern heißt, Zentren in Polen und Tschechien seien keine Konkurrenz, und Amazon-Europa-Manager Tim Collins behauptet: „Wir haben keine Pläne, Standorte zu schließen oder zu verlagern.“ Gewerkschaftssekretär Najda ist sich sicher: „Mit feinen Zwischentönen versuchen Standortleitungen dennoch, die Angst der Beschäftigten vor Verlagerungen zu schüren.“

In eine solche Richtung weisen auch Erfahrungen, die Tim Schmidt, Betriebsratsvorsitzender des Amazon-Versandzentrums in Rheinberg am Niederrhein, gesammelt hat. „In einem Arbeitsgerichtsverfahren haben die Firmenvertreter mitgeteilt, dass es keinen größeren Personalbedarf geben werde, weil ein Teil des Warenvolumens über die Standorte in Osteuropa läuft“, sagt er.

Dass aber auch das Amazon-Hütchenspiel Grenzen hat, da ist sich Najda sicher: „Wenn Amazon einmal einen Auftrag in einem Versandzentrum platziert hat, können sie diesen nicht mehr einfach verschieben. Auch das kurzfristige Lieferversprechen setzt Verlagerungen grundsätzlich Grenzen.

So haben wir es geschafft, die Auslieferung vor Ostern durch Streiks empfindlich zu stören.“ Testkäufe seien mit zehn Tagen Verspätung gekommen, und in den Versandzentren hätten sich liegen gebliebene Waren gestapelt. Auch verplapperte sich der Leiter des Amazon-Standortes Graben nahe Augsburg vor laufender TV-Kamera. Er räumte ein, man habe streikbedingt „leichte Einbußen im Volumen“ gehabt. Plötzlich rief eine Unternehmenssprecherin: „Stopp!“

Amazon hat sich als hartnäckiger Gegner erwiesen. Anfang 2015 gab es an vielen Amazon-Standorten massiven Personalabbau durch die Nichtverlängerung befristeter Verträge. „So versucht man die Grenze von 2.000 Beschäftigten je Betrieb zu unterschreiten, um einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat zu verhindern, um den wir gerade vor Gerichten ringen“, erläutert Najda. Die einzelnen Amazon-Standorte sind formal eigene GmbHs. „Diese Konstruktion verhindert auch einen Gesamtbetriebsrat“, erläutert Najda.

Aber im Hütchenspiel der Amazon-Bosse mit 25 europäischen Versandzentren zahlen die Gewerkschaften mit gleicher Münze zurück: „Wir sind europaweit eng gewerkschaftlich vernetzt, unter anderem mit Solidarno?? in Polen“, sagt Najda, „und alle Beteiligten wissen: Das ist eine mittelfristige Auseinandersetzung.“

Trotz aller Kaltschnäuzigkeit von Amazon: Der Organisationsgrad von ver.di an Standorten wie Bad Hersfeld oder Rheinberg ist weiter gestiegen und liegt inzwischen schon bei 50 Prozent.