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Am Abend mancher Tage

erschienen in Clara, Ausgabe 9,

Sommertour - das klingt doch … nach Arbeit und Anstrengung.

Aber irgendwie … auch richtig gut.

Dies sind Geschichten von Nähe und Distanz. Die Distanz hat leichtes Spiel. Vorerst. Sie ist der natürliche Zustand, wenn Fremde sich begegnen. Und eine Sommertour setzt auf die Begegnung von Fremden. Dafür ist sie da.
Am 30. Juni machen sich vier linke Bundestagsabgeordnete der Landesgruppe Brandenburg auf den Weg. Dagmar Enkelmann, Diana Golze, Kirsten Tackmann und Wolfgang Neskovic. Am Morgen erzählen sie den Journalisten, was sie vorhaben und warum sie, kaum ist der Bundestag in die Parlamentsferien gegangen, durch Brandenburg fahren werden. Eine Woche lang. Sie wollen Nähe herstellen. Sie sagen: »Wir wollen präsent sein und den Dialog mit den Menschen im Land suchen.« Alle vier reden ein paar Minuten lang darüber, warum sie das wollen. Sie sind es gewohnt, nur ein paar Minuten zu haben, um sich zu erklären. Ihre Sätze beeilen sich, ans Ziel zu kommen. Später, bei den Leuten in Brandenburg, wird das Tempo gedrosselt. Die Menschen wollen, dass man ihnen zuhört und sich Zeit nimmt. Ihre Probleme haben schon so lange gewartet, da kann es jetzt nicht darum gehen, sie in fünf Minuten kurz und klein zu reden. Die vier Abgeordneten wissen das. Sie sind bereit und willens, jeden Tag dieser Woche die Distanz zu überwinden.

Bei jedem Gespräch -
hoffen auf Hilfe

Zuzuhören, mitzunehmen und vielleicht auch manchmal zu sagen: »Das ist eine bittere Geschichte.« Und das dann so stehen zu lassen, weil sich nicht für jede bittere Geschichte ein Ausweg finden lässt, ist auch für Wolfgang Neskovic nicht leicht. Der Lübecker sagt, dass er gern ein Brandenburger Abgeordneter im Bundestag ist. Dass ihm die Menschen gefallen. Wie sie ihr Leben meistern, den Kopf oben behalten. Wie sie es schaffen, am Scheitern nicht zu verzweifeln und sich selbst zu helfen. Wie sie Erfolge erkämpfen. Wolfgang Neskovic tourt, seit er gewählt ist, durch Brandenburg. Er redet über den Sozialstaat, der ein Sozialfall geworden ist, und darüber, wie viel Sicherheit die Freiheit verträgt. Die Leute hören ihm zu. Sie sind seiner Meinung oder geben Widerworte. Gleichgültig sind sie nicht. »Ich bin ein bürgerlicher Linker«, sagt Neskovic, und seltsamerweise schafft das Nähe. Es macht irgendwie klar, dass da einer im gut geschnittenen Anzug - schwarz und mit Nadelstreifen - stehen und von Armut reden kann, wo man selbst seine Klamotten beim Vietnamesen an der Ecke kauft und Armut kennt.
Wenn einer klarmacht, dass er sich des Unterschiedes bewusst ist und doch auf Gemeinsamkeiten baut, kann das funktionieren. Gemeinsam könnte ihnen sein, so seine Rede, sich gegen Ungerechtigkeit wehren zu wollen. Mit allen Möglichkeiten, die das Grundgesetz bietet. Das Grundgesetz ist Neskovics stärkste Waffe. Am Anfang lachen die Leute manchmal, wenn er damit kommt. Es klingt ihnen sonderbar in den Ohren, einen Linken so reden zu hören. Am ersten Tag der Sommertour hat der einstige Richter am Bundesgerichtshof zwei Diskussionsveranstaltungen, die spannen den Bogen der Möglichkeiten und Schwierigkeiten ganz weit. Das Gespräch mit Schülerinnen und Schülern im Oberstufenzentrum Werder findet mittags mit dem Lehrer und dem Landtagsabgeordneten Andreas Bernig statt.
Die Mädchen und Jungen sind höflich und skeptisch. Ihre Sätze bestehen am Anfang aus wenigen Worten. Zwischen ihnen und dem Abgeordneten Neskovic stehen zwei Bankreihen, liegen 42 Jahre, bauen sehr unterschiedliche Erfahrungswelten ein paar zusätzliche Hürden auf. Das Thema Onlinedurchsuchungen interessiert sie. Und sie horchen auf, als Neskovic ein realistisches Bild von der Arbeit im Parlament zeichnet. Eine »Abnickmaschine« nennt er es an einer Stelle. Das klingt ehrlich.

»Ungerechtigkeit ist kein Naturereignis«

…sagt er in einem anderen Zusammenhang. Das klingt utopisch, aber nicht schlecht. Der Abstand wird ein bisschen kleiner, bleibt aber sichtbar. Er verringert sich noch ein wenig mehr durch die Erlebnisse, die Neskovic aus seiner Zeit als Richter fragmentarisch erzählt. Vielleicht ist das überhaupt das Geheimnis. »Murat Kurnaz war als 18-Jähriger ein etwas verwirrter, einfacher junger Mann auf Sinnsuche. Er fand die Religion … Ich bemühe mich, einem Vater zu hel-fen, dessen Sohn nach einem Einsatz im Kosovo an einer unerklärlichen Krankheit verstarb.« So klingen die Ge-schichten. Sie kommen aus dem Leben, sie berichten von Ungerechtigkeiten und kleinen Siegen, von Anteilnahme und Verzweiflung. Sie sind so, dass Schülerinnen und Schüler einer 12. Klasse anfangen, etwas längere Sätze zu sagen und Fragen zu stellen.
Dann fragt der Abgeordnete. Wie es mit dem Rechtsradikalismus sei. Und bekommt einen Sack voller Meinungen, Urteile und Vorurteile. »Ihr Politiker seht doch nicht, wie es uns geht. Wieso dürfen die hier Moscheen bauen? Die Ausländer hier sind auch rechts. Ist doch krass, wenn man in seiner eigenen Heimat von Türken angemacht wird. Und die Kriminalität steigt.« Die Diskussion ist schwierig, aber: Es ist eine Diskussion. Keiner weicht aus. Ob das für Nähe reicht, daran kann man zweifeln. Aber für Respekt. Und ein bisschen klüger ist man danach auch.
Am Abend wird es ganz anders laufen. Aber zuvor treffen Wolfgang Neskovic und Kirsten Tackmann Martina Müller, die Leiterin der Tee- und Wärmestube Werder. Die schuftet mit zwei Frauen, die für 1,30 Euro die Stunde arbeiten, und einem arbeitslosen Betonbauer in den neuen Räumen, die nun bald bezogen werden können. Die Wärmestube wird von der Diakonie betrieben und bekommt Unterstützung von Stadt und Landkreis. Sie ist ein Zufluchtsort, ein Trost. Schon jetzt, da sie noch Baustelle ist, für die, die hier arbeiten. Sich und anderen zur Rettung. Möglicherweise. Nach dem Rundgang sitzt man draußen im noch verwilderten Garten und erzählt sich wahre Geschichten. Die hat alle das Leben geschrieben. Die Abgeordneten Neskovic und Tackmann hören zu. Dann reden sie, machen Mut, sagen: Das da nehmen wir mal mit, vielleicht kann man was machen. Sagen: So geht es nicht, die Dinge müssen sich än-dern. Nein, müssen geändert werden. Danach steht Wolfgang Neskovic vor einem Einkaufszentrum am Infostand. Redet mit Leuten. An der Grillhütte kostet ein Kaffee mit Rum einen Euro, in der Kneipe nebenan ein großer gemischter Salat sechs. Für sechs Euro bekommt man drinnen bei Kaufland zwei Paar Aqua-Schuhe. »Guten Tag, mein Name ist Neskovic, ich bin Abgeordneter im Deutschen Bundestag.« Kaffee mit Rum für einen Euro, das ist manchmal das Leben. Der Abgeordnete schafft es, nicht fehl am Platz zu wirken. Das ist ein bisschen Kunst.
Am Abend im Bürgerhaus Teltow findet dann ein Heimspiel statt. Zur Veranstaltung »Linke Ecke - Wie viel Sicherheit verträgt die Freiheit?« kommen auch viele Genossinnen und Genossen. Sie sitzen an Vierertischen und die meisten sind schon etwas älter. Zwei Stunden lang sind sie ganz und gar dabei. Von Distanz nichts zu spüren. Ein junger Mann in Schwarz klopft alle paar Minuten auf den Tisch. »Bravo!«, klopft er, und manchmal klatschen die anderen gleich mit. »Wir Linken im Bundestag sind fleischgewordene Dialektik«, sagt Neskovic, »ein Kessel Buntes sind wir.« Das schafft so viel Nähe im brandenburgischen Teltow, dass für einen Moment vergessen sein kann, wie anstrengend Sommertouren sind. Man weiß nur noch eines: Schön sind sie auch.