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„Alle haben Macht an die Profitwirtschaft abgegeben“

erschienen in Clara, Ausgabe 28,

Die Publizistin Daniela Dahn plädiert in ihrem neuen Buch für eine Selbstermächtigung des Volkes. Ihm gehöre das Recht. clara veröffentlicht Auszüge aus der Streitschrift

In einer von Politikverdrossenheit gekennzeichneten Zeit leisten sich Regierungen und Gerichte die obrigkeitsstaatliche Auffassung, eine von den Bürgern initiierte Veränderung der Verfassung sei nicht erwünscht. Das heißt, der Staat verzichtet dankend auf Bekundungen der Bevölkerung, in welchem Sinne sie regiert werden will. Sie sollen sich mit dem Parteienkarussell, in dem wechselnde Eliten um dieselbe Macht kämpfen, begnügen. Die Wähler dürfen Abgeordneten zu Karrieren und Diäten verhelfen, sollen sie dann aber nicht weiter belästigen.

Demokratie bedeutet Machtbeschränkung. Die Teilung der Gewalten von Legislative, Exekutive und Judikative soll Missbrauch verhindern. Doch die Parlamente haben Macht an die Regierung abgegeben, die Regierung hat Macht an die EU-Kommission abgegeben, diese hat Macht an die Weltbank und die Welthandelsorganisation abgegeben, alle haben Macht an die Profitwirtschaft abgegeben. Und der Wähler soll seine Stimme abgeben und sich dabei fühlen wie Hans im Glück. Er guckt in die Luft und fragt sich, welche Wahl er eigentlich hat, wenn niemand die verborgen herrschende Macht beschränkt, die des Kapitals?

In Deutschland können sieben Millionen Beschäftigte von ihrer Vollzeit-Arbeit nicht leben. In Europa soll die Kluft zwischen Arm und Reich derzeit ähnlich groß sein wie vor der Französischen Revolution. Der beste Beweis dafür, dass all diese Betroffenen nicht den geringsten Anteil an der Gesetzgebung haben können. Man staunt über die Annahme, die Gedemütigten würden dies ewig so hinnehmen.

Die Souveränität liegt beim Kapital. Das hat sich diesen Staatsstreich gekauft. Zum Schnäppchenpreis – enorm gewinnbringend. Doch zum Kauf gehören immer zwei. Für diesen Deal mit einer elitären Clique hatten die Politiker kein Mandat. Das heißt, sie haben ihr freies Mandat dafür missbraucht. Ihr Gewissen, dieses Seelchen, stand ihnen dabei offensichtlich nicht im Wege. Es scheint doch ein zu schwaches Organ zu sein, als dass man es mit so viel Verantwortung allein lassen könnte.

Wir haben einen Staat, der für den Missbrauch durch die Reichen geschaffen ist. Als Eigentümer gerät dieser Staat ständig in Rollenkonflikte. Es gilt als antiquiert, in die operative, privatwirtschaftlich betriebene Geschäftsführung einzugreifen. Mit der Folge, dass es für die Beschäftigten ohne Belang ist, ob sie in einem staatlichen Betrieb arbeiten oder nicht. Früher galt der Staat als Anteilseigner, mit seiner Sperrminorität im Aufsichtsrat, noch als gewisser Schutz vor feindlichen Übernahmen. Das öffentlich gewidmete Privateigentum des Staates sah sich stärker einem am Gemeinwohl orientierten Legitimationsdruck ausgesetzt. Doch unter dem Privatisierungswahn der Europäischen Union ist auch darauf immer weniger Verlass. Ja der Staat verwandelt sich immer mehr in eine Apparatur zum Schutz systemrelevanten Privateigentums auf Kosten der Allgemeinheit.

Dabei verhindert das eherne Prinzip der Gewinnmaximierung Vernunft. Wenn etwa Gewerkschaftler in Aufsichtsräten aus ökologischen und gesundheitlichen Gründen darauf drängen, schädliche industrielle Verfahren zu verändern, drücken sie mit dieser Investitionsforderung auf die Rendite. Das entgeht den Bankhäusern nicht. Sie verschlechtern das Ranking und damit werden Kredite für dieses Unternehmen teurer. Das heißt, vernünftige Vorschläge setzen einen Mechanismus in Gang, der abstraft, der Arbeitsplätze und womöglich das ganze Unternehmen gefährdet. Weshalb die Lohnabhängigen in den Aufsichtsräten schweigen, statt ihre Kontrollaufgabe wahrzunehmen. Dieser irrationale Mechanismus ist durch Reparaturen am Rande nicht zu beheben. Frei ist, wer die als falsch erkannte Funktionslogik umzukehren vermag.


Daniela Dahn: Die Schriftstellerin und Publizistin wurde im Jahr 1949 in Berlin geboren. Sie arbeitete bis zum Jahr 1981 als Fernsehjournalistin, danach als freischaffende Autorin, außerdem als Herausgeberin der Wochenzeitung Der Freitag. Im Verlag Rowohlt erschienen bislang neun Essay- und Sachbücher. Sie ist Trägerin des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik, der Louise-Schroeder-Medaille der Stadt Berlin und des Ludwig-Börne-Preises