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Al Gore: Mister Maybe

erschienen in Clara, Ausgabe 4,

Einstiger US-Vizepräsident agiert als Umweltaktivist

Der Mann ist mächtig - im doppelten Wortsinne. Sowohl körperlich als auch geistig. Und das, obwohl er bislang hauptsächlich als ewiger Zweiter - zumindest als Politiker geglänzt hat. Wenn, und dieses Wenn wird zurzeit als einer der folgenschwersten Konjunktive im US-amerikanischen Wahlkampf gehandelt, wenn also Al Gore, nach seinen Niederlagen von 1988 und 2000, erneut ins Rennen um die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten von Amerika ginge, dann hätte er zumindest schon bei seinen spanischsprachigen Wählern, den »Hispanics« - einem immer wichtiger werdenden Teil in der US-amerikanischen Gesellschaft - ziemlich sicher einen Spitznamen weg. Aus Al Gore könnte »El Gordo« - der Dicke werden. Als er die Suite betritt, in der unser Interview stattfindet, beeindruckt er aber nicht in erster Linie durch seine Leibesfülle, sondern durch seine ebenso gewichtige Persönlichkeit. Sein Blick ist scharf und wach - das Wort »Jetlag« existiert wahrscheinlich in seinem Vokabular nicht - das Lächeln ist manchmal geradezu verschmitzt und die Grundhaltung ausgesprochen freundlich.

Unser Gespräch im noblen Berliner Adlon fand vor dem jetzigen Hype statt. Vor der Oscar-Verleihung für den Dokumentarfilm »Eine unbequeme Wahrheit«, der im Grunde genommen wenig mehr ist als eine dramaturgisch und visuell etwas aufgepeppte Version des Diavortrages, mit dem Al Gore seit Jahren durch die Welt tourt. Vor der Nominierung für den Friedensnobelpreis und vor der Bekanntgabe Gores, er wolle mit Live Earth das größte Benefiz-Konzert der Welt veranstalten - offensichtlich nach den Vorbildern der Live AID und Live 8 Konzerte, die sich für den Schuldenerlass in Dritte-Welt-Ländern einsetzen. Angesichts der Medienwirksamkeit, die Al Gore mit seiner Klimathematik gerade auf sich zieht, dürften die anderen Gutmensch-Stars Bob Geldorf und Bono vor Neid fast ein bisschen blass werden. Der Mann ist momentan ebenso »hot« wie die sich erwärmende Erdatmosphäre. Das im Juli stattfindende Konzert wird ein Millionenpublikum erreichen.

Äpfel oder Birnen?

Al Gore weiß, dass er es als Politiker - selbst als Präsident - nicht leicht hätte, seine Umweltansichten in die Tat umzusetzen. Da müsste er wahrscheinlich kompromissbereiter sein als jetzt. Dennoch: »Ich bin mir vollkommen im Klaren darüber, dass man als Präsident die mächtigste und potentziell einflussreichste Position in der Welt innehat.« Spricht so einer, der es nicht noch einmal versuchen würde, eben dieses Amt innezuhaben? Einer, der weiter sagt: »Ich glaube sagen zu können, dass, wäre ich Präsident geworden, ich in der Lage gewesen wäre, bestimmte Veränderungen, die dringend nötig sind, in die Wege zu leiten.«

So spricht aber auch einer, der weiß: »Wahr ist auch, dass man als Präsident sehr viele Verpflichtungen gegenüber allen Bedürfnissen seiner Wählerschaft hat. Dass man sich mit all ihren Problemen auseinandersetzen muss, schließlich haben sie ein Recht darauf. Wäre ich heute Präsident, säße ich nicht hier, sondern würde Statements formulieren, telefonieren und wahrscheinlich noch viele andere Dinge machen, als Reaktion auf die Nukleartests in Nordkorea. Stattdessen werde ich heute in Berlin einen Vortrag über die Klimaerwärmung halten. Ich kann mich auf eine einzige Sache fokussieren, und das hat auch Vorteile. Es ist eine andere Art von Einflussnahme. Ein wenig, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen.« Fragt sich, worauf er in Zukunft mehr Appetit haben wird.

Bei den Fakten macht Gor keiner was vor

Vielleicht ist er jetzt so erfolgreich, weil er seine wahre Leidenschaft entdeckt hat. Als er seinen damals sechsjährigen Sohn fast bei einem Autounfall verlor oder seine Schwester an Lungenkrebs starb - und er den Tabakanbau auf der väterlichen Farm auf einmal mit anderen Augen sah. Da gab er seinem Leben einen neuen Sinn und den Vereinigten Staaten von Amerika einen neuen, privaten Angreifer auf die herrschende Politik. Dass ihn noch keiner öffentlich als »Fundamentalisten« bezeichnet hat, ist eigentlich verwunderlich. Doch selbst seine erbittertsten Feinde können ihm nicht vorwerfen, er sei zeitgeistmäßig auf den Umweltzug aufgesprungen. Schon als Student in Harvard war er an dem Thema dran. Bei den Fakten macht Gore keiner was vor.

Ob er glaubt, dass die Tatsache, dass er Politiker war, in irgendeiner Form Einfluss auf seine jetzige Glaubwürdigkeit hat? Ja, das glaubt er: »Die Leute wissen, dass ich schon seit 30 Jahren dieselbe Geschichte erzähle. Sie wissen, wie sehr ich mich in Kioto engagiert habe, wie viele Senatsanhörungen ich einberufen habe. Dass ich mich vor Ort, am Nord- und Südpol, im Amazonasgebiet und in Tschernobyl informiert habe. Das gibt meinen Aussagen ein gewisses Gewicht. Und ich brauche dieses Gewicht, denn ich bin kein Wissenschaftler. Ich interpretiere nur, was die Wissenschaftler in den letzten vierzig
Jahren erzählt haben.«

Im Mai kam sein Buch »Der Anschlag auf die Vernunft« heraus. Eine Analyse über den Machtmissbrauch politischer Mechanismen vornehmlich mit Ängsten der Wähler, der zu einer vernunftsfeindlichen Atmosphäre führt. Sicher auch eine Abrechnung mit George W. Bush. Dem Titel nach könnte es aber auch so etwas wie eine Attacke sein. Sieben Jahre nach seiner Niederlage gegen den Texaner.

Wäre das ein Wunder? Die Sieben Weltwunder stehen ja zurzeit auch im Internet zur Neuwahl, und selbst wenn der Maestro sich noch bedeckt hält - andere übernehmen bereits die Initiative. Unter www.algore.org organisieren sich die Jünger des neuen Umwelt-Messias zu Gore-Gruppen, die ihre verheißungsvoll prophezeite Kampagne seiner Person unterstützen. Da kann man aktiv volontieren oder passiv spendieren - fragt sich, was daraus wird, wenn Al Gore NICHT kandidiert?!

Möge die Macht mit ihm sein?

Immerhin ist sein Name schon zum Synonym für eine Sache geworden. Al Gore hat sich sein eigenes »Mutter-Theresa-Mandat« in Sachen Rettung der Umwelt ausgestellt. Da mobilisiert einer die Massen und kommt dabei mächtig voran und ins Schwitzen. Man würde an seinem Körperumfang sehen, ob er noch mal kandidieren würde, ließ seine Wahlkampfmanagerin von 2000 verlauten. Denn ganz so unbegrenzt an Möglichkeiten ist »God’s own Country« ja bekanntlich doch nicht. Es bleibt also abzuwarten, ob der mächtige »Hollywood Al«, wie er inzwischen auch gern genannt wird, noch einmal versuchen möchte, ob die Macht mit ihm ist. Vielleicht steckt der Mann auch schlicht in einem moralischen Dilemma. Vielleicht kämpft Al Gore insgeheim einen politisch-menschlichen Interessenkonflikt aus: Bei den Weight Watchers wird man schließlich für höheren Energieverbrauch belohnt.

Bettina Peulecke