Zum Hauptinhalt springen

Abschwung Ost

erschienen in Clara, Ausgabe 5,

Hans Thie, Referent für Wirtschaftspolitik der Fraktion DIE LINKE, im Gespräch mit Olaf Arndt, Regionalforscher der Schweizer Unternehmensberatung prognos-AG, über problembeladene Regionen, industrielle Leuchttürme und aktive Strukturpolitik

Hans Thie: Sie haben alle 439 Landkreise und Städte der Bundesrepublik einem Zukunftstest unterzogen und bewertet. Auf Ihrer ökonomischen Deutschlandkarte sind die Umrisse der DDR nach fast 17 Jahren staatlicher Einheit immer noch deutlich zu erkennen. Wie kommen Sie zu der Schlussfolgerung, dass der Ost-West-Gegensatz schwächer geworden ist?

Olaf Arndt: Zum einen sind wir noch mittendrin im Aufholprozess, mit entsprechenden Unterschieden zwischen Ost und West. Erfreulicherweise ist dieser Gegensatz
in den vergangenen Jahren aber auch schwächer geworden, weil einzelne Regionen im Osten sehr stark aufgeholt haben. Der Osten differenziert sich also genauso, wie es der Westen tut. Bundesweit können wir feststellen, dass sich die wirtschaftlichen Aktivitäten auf die
Agglomerationsräume, also auf die
ökonomisch führenden Städte und ihr Umland, konzentrieren.

Hans Thie: Damit verbunden ist die Hoffnung, dass die sogenannten industriellen Leuchttürme nicht nur auf die Vororte, sondern weiter ausstrahlen. Das aber tun sie nicht, jedenfalls nicht im Osten. Selbst in der Nähe von Dresden, Potsdam
und Jena - den drei prosperierenden Wachstumsinseln - gibt es Orte mit einer Arbeitslosigkeit von 25 Prozent.

Olaf Arndt: In der Tat sind die von Ihnen genannten Städte und andere, die sich ebenfalls gut entwickelt haben, wie etwa Magdeburg, noch nicht in der Lage, Ostdeutschland insgesamt mitzureißen. Ihre Wirkungen beschränken sich zunächst auf das unmittelbare Umland - ein Phänomen, das wir aus vielen Ländern Europas kennen. Um die Metropolen bilden sich konzentrische Kreise, und die Ausstrahlung wird mit der Entfernung vom Zentrum schwächer.

Hans Thie: Vielleicht sollten Regionalforscher
auch die umgekehrte Frage stellen: Wie wahrscheinlich ist es, dass die Leuchttürme von den Abwärtsspiralen in ihrem weiteren Umfeld negativ beeinflusst werden? Manche Ihrer Kollegen sprechen nicht von Leuchttürmen, sondern von Kathedralen in der Wüste.

Olaf Arndt: Zweifellos muss man diese umgekehrten Effekte im Blick haben. In weiten Teilen Ostdeutschlands, insbesondere in den strukturschwachen ländlichen Regionen, verstärken sich negative Tendenzen wechselseitig. Als Folge von Abwanderung und gravierenden sozialen Problemen schrumpft die regionale Nachfrage. Entsprechend ungünstig sind die Aussichten für die lokalen Unternehmen, die von der Kaufkraft ihrer Standorte abhängig sind. Weil solche Negativ-spiralen keine Einzelfälle sind, darf sich die Politik selbstverständlich nicht allein auf die Strahlkraft der
Hoffnungsträger verlassen.

Hans Thie: Zumal die Zuwendungen aus dem Solidarpakt II ab 2009 spürbar geringer werden und manchen Landes- und Kom-munalhaushalt noch stärker in Bedrängnis bringen. Hinzu kommt die Trendumkehr bei den ostdeutschen Altersein-kommen. Aufgrund langjähriger Massenarbeitslosigkeit werden
die durchschnittlichen Rentenbezüge künftig sinken, und das bei gleichzeitig schnell steigendem Rentneranteil.

Olaf Arndt: Beide Faktoren werden in den Regionen, die noch nicht den Anschluss gefunden haben, den Abwärtstrend beschleu-nigen. So wird zum Beispiel die konsumnahe Infrastruktur nicht mehr auszulasten sein, wenn die Rentner, die ja langfristig einen hohen Anteil an der Bevölkerung stellen werden, sich die Angebote nicht mehr leisten können.

Hans Thie: Mit welcher Strategie lassen sich
solche Szenarien vermeiden?

Olaf Arndt: Grundsätzlich gibt es zwei Strategien. Einmal die Langfriststrategie über die industriellen Leuchttürme, in denen sich wettbewerbsfähige Strukturen herausgebildet haben und die weiter auszubauen sind. Was wir aber zusätzlich in den problem-beladenen Regionen dringend brauchen,
ist eine gezielte Unterstützung der dort tätigen Firmen, insbeson-dere in den Bereichen Ausbildung, Fachkräftenachwuchs und ganz allgemein in Maßnahmen, die verhindern, dass die vorhandenen fähigen Köpfe abwandern.

Hans Thie: Brauchen wir nicht auch eine aktive Strukturpolitik? Mit seinen Flächen-reserven und mit den schon existierenden Windenergie- und Solarclustern
ist Ostdeutschland für den ökologischen Strukturwandel prädestiniert und könnte bis 2020 zur ersten regenerativen Energieregion Europas werden.
Das wäre doch mal ein positives Leitbild!

Olaf Arndt: Grundsätzlich ist aktive Strukturpolitik sinnvoll, um solche Chancen zu ergreifen. Aber bei den dafür geeigneten Maß-nahmen sollte man sorgfältig abwägen. Dort, wo Initiativen aus den Regionen selbst erwachsen, kann die Politik zur Stabilisierung und Ausweitung solcher Initiativen beitragen. Aber bei der Investorenwerbung und bei Neuansiedlungen herrscht nun mal der übliche Standortwettbewerb, den man durch Subventionen nicht unnötig verzerren sollte. Auch bei aktiver Strukturpolitik ist stets darauf zu achten, dass wirklich lebensfähige Projekte entstehen, die nach gewisser Zeit auf eigenen Beinen stehen. Jenseits der Detailfragen gebe ich Ihnen recht: Wir brauchen positive Leitbilder. In den vergangenen Jahren wurde häufig von sozialverträglichem Rückbau gesprochen und die viel wichtigere Aufgabe der Zukunftsgestaltung vernachlässigt.

Dr. Olaf Arndt (39) arbeitet als Regionalforscher in der Bremer Niederlassung der Schweizer Prognos AG. Das Ge-schäftsfeld »Zukunft der Regionen« erarbeitet regionale Strategien zur Identifikation und Nutzung von Zukunftschan-cen.

Dr. Hans Thie (50), Soziologe und Autor, arbeitet seit Januar 2007 als Referent für Wirtschaftspolitik der Fraktion DIE LINKE.