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Gleiche Rente für gleiche Lebensleistung

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Debatte über die Überführung der Ansprüche und Anwartschaften aus Renten- und Versorgungssystemen der DDR in bundesdeutsches Recht

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Bei der Überleitung der Anwartschaften und der Renten in Ostdeutschland auf die Bundesrepublik Deutschland ist viel geleistet worden. Sehr viele Menschen in den neuen Bundesländern bekommen aufgrund der gesetzlichen Bestimmungen eine durchaus angemessene Rente und können davon in Würde leben.

(Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Im Gegensatz zur Zeit davor!)

Es gab allerdings beachtliche Ausnahmen, Strafrecht, Ungerechtigkeiten und Lücken im Rentenrecht. Mich stört besonders die Tatsache, dass der Bundestag immer nur auf Beschluss des Bundesverfassungsgerichts Korrekturen vorgenommen hat.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Das ist nicht wahr!)

Die Mehrheit des Bundestages war nie der Meinung, dass an der einen oder anderen Stelle Korrekturen notwendig sind. Das wäre aber dringend erforderlich gewesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Gysi, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Grund?

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ja.

Manfred Grund (CDU/CSU):
Herr Kollege Gysi, es ist nicht wahr, dass der Bundestag nicht aus eigenem Ermessen gehandelt hat. Er hat in mindestens zwei Fällen gehandelt, zum einen bei der Anhebung der Kappungsgrenze auf E 3, wodurch viele ehemalige Angehörige der bewaffneten Streitkräfte der DDR in die Rentenversicherung aufgenommen wurden, und zum anderen bei der Eisenbahnerversorgung. Das sind mindestens zwei Fälle, die Ihrer Aussage widersprechen. Bestätigen Sie, dass der Bundestag nicht nur auf Druck des Bundesverfassungsgerichts, sondern auch aus eigenem Ermessen gehandelt hat?

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Nein, das bestätige ich nicht; denn das alles geschah im Zusammenhang damit, dass das Bundesverfassungsgericht entschieden hatte, dass etwas korrigiert werden muss. Sie sind dabei sicherlich noch ein, zwei Schritte weitergegangen. Aber eine Eigeninitiative seitens der Mehrheit des Bundestages hat es nicht gegeben.

(Beifall bei der LINKEN - Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Morgen werden Sie das schon wieder anders beantworten!)

Jetzt kommen wir zur Frage des Strafrechts; dabei geht es um die Staatsnahen. Sie wissen, wie viele Jahre dies das Parlament beschäftigt hat. Ich kenne alle diesbezüglichen Angriffe aus der CDU/CSU, die ich übrigens deshalb für so falsch halte, weil sie nach unvergleichlich schlimmeren Verbrechen nach 1945 nicht eine einzige Rentenkürzung vorgenommen, hier aber plötzlich ganz anderes gespielt hat.
Im Übrigen ist das Rentenrecht dafür überhaupt nicht geeignet. Man kann Biographien unterschiedlich beurteilen und kann Menschen auch strafrechtlich zur Verantwortung ziehen; das kann man alles machen, aber das hat mit der Höhe der Rente, auf die jemand Anspruch hat, nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen erwarte ich von der SPD, dass sie zu ihrem Antrag steht, den sie in der Opposition gestellt hat. Darin haben Sie verlangt, dass alle entsprechend ihrem Einkommen eine Rente beziehen sollten. Es darf doch nicht wieder das passieren, was wir aus Wahlkämpfen kennen: Die SPD verspricht das eine, und wenn sie dann regiert, macht sie das Gegenteil. Hier beantragen Sie das eine in der Opposition, und wenn Sie in der Regierung sitzen, setzen Sie davon nichts um. Auch das darf nicht passieren.

(Beifall bei der LINKEN - Dirk Niebel (FDP): Wie ist das denn in Berlin?)

Geben Sie mir eine Viertelminute Redezeitverlängerung;

(Dr. Jürgen Gehb (CDU/CSU): Nein, um Gottes willen! Es soll ein schönes Wochenende werden!)

dann sage ich euch gern etwas zu Tempelhof. Sie haben unterschrieben, dass Tempelhof geschlossen wird, Ihre Regierung, getragen von CDU und FDP, Ihr Regierender Bürgermeister, Herr Diepgen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Sie haben die Tatsachen geschaffen, und heute wollen Sie das Volk vorführen, indem Sie einen Volksentscheid organisieren,

(Zuruf von der CDU/CSU: Künstliche Aufregung!)

von dem Sie wissen, dass er gar nicht funktionieren kann. Nein, Sie sind in diesem Punkt am unglaubwürdigsten, um das ganz klar zu sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Gysi, Ihre Redezeit würde verlängert, wenn Sie dem Kollegen Niebel die Chance gäben, eine Zwischenfrage zu stellen.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Na gut, dann machen wir das so. Aber die Uhr läuft ja noch, Herr Präsident. - Nein, jetzt steht sie.

(Heiterkeit bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte schön, Herr Niebel.

Dirk Niebel (FDP):
Sehr geehrter Kollege Gysi, ich freue mich, Ihre Redezeit ein Stück weit verlängern zu dürfen, denn das könnte ja Erhellung für die Menschen in diesem Land mit sich bringen.
Sie haben den Sozialdemokraten gerade vorgeworfen, dass sie in der Opposition Dinge sagen, die sie in der Regierung nicht machen. Nun haben Sie sich persönlich medienöffentlich und hat sich Ihr Parteivorsitzender gestern in diesem Hause hinsichtlich der Bewertung von Volksentscheiden geäußert; Ihr Parteivorsitzender sehr klar, Sie eher unklar. Deswegen gebe ich Ihnen gern die Gelegenheit, uns allen zu sagen, was denn Ihre Position ist.
Sie haben hier in der Opposition mehrfach - meines Erachtens völlig zu Recht - mehr plebiszitäre Elemente gefordert, also mehr Möglichkeiten der Menschen in diesem Land, an Entscheidungen teilhaben zu können. Sie sind im Land Berlin Mitglied der Landesregierung. Nun gibt es am Sonntag in Berlin einen Volksentscheid, der weit über die Stadtgrenzen Berlins hinaus für Interesse gesorgt hat, denn es geht um ein Symbol und um einen Wirtschaftsfaktor.
Wenn das Volk entschiede, dass Tempelhof offen bleiben soll - anders, als Sie es inhaltlich für richtig halten -, und Sie hier als Oppositionspolitiker fordern, Volksentscheide durchzuführen und sich selbstverständlich daran zu halten, weil es ein Volksentscheid und kein Volksvorschlag ist, wie werden Sie sich dann als Regierungspartei in Berlin verhalten?

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Niebel, wenn wir jetzt den Gegenstand der Debatte verändern, wogegen ich gar nichts habe, dann unterhalten wir uns darüber.
Erstens. Dass es in Berlin Volksentscheide gibt, liegt an der Linken. Sie hat das durchgesetzt, und wir mussten auch die SPD davon erst überzeugen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das darf man doch einmal erwähnen.
Zweitens stimme ich Ihnen völlig zu, dass die Ergebnisse von Volksentscheiden selbstverständlich bindend sein müssen; anderenfalls muss man sie nicht durchführen.

(Zurufe von der CDU/CSU: Aha!)

Nun gibt es zwei Arten von Volksentscheiden: Es gibt solche, die empfehlenden Charakter haben, und solche, die Gesetzgebungscharakter haben.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Das ist Dialektik!)

Ja, die evangelische Kirche mit Bischof Huber macht das in Berlin jetzt klüger: Sie unterbreitet gleich einen Gesetzentwurf, und deswegen wäre das Ergebnis dann auch verbindlich.

(Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt bekommen wir Nachhilfe!)

Das Problem ist, dass ich auch bei den anderen dafür bin, dass man sich danach richtet, es sei denn, dass zwingende rechtliche Gründe dagegen sprechen. Dies sind hier ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, eine Unterschrift der Bundesregierung von CDU/CSU und FDP

(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt doch gar nicht!)

sowie eine Unterschrift des ehemaligen Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen. Dies alles spricht dagegen.
Was Herr Pflüger hier macht, ist wirklich übel. Herr Pflüger weiß, dass Herr Diepgen das Gegenteil beschlossen hat, und sagt, jetzt sei die Situation ein bisschen anders, und führt einen Volksentscheid durch, bei dem er weiß, dass das Ergebnis rechtlich gar nicht umsetzbar ist. Das ist ein Betrug am Volk, den nicht der Senat begeht.
Das ist meine Antwort.

(Beifall bei der LINKEN)

Jetzt möchte ich aber zu den Renten zurückkommen, weil es ja eigentlich um sie geht.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Gysi, würden Sie noch eine Zwischenfrage erlauben, und zwar des Kollegen Mücke?

(Zurufe von der CDU/CSU: Aber nicht zu Tempelhof!)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Herr Präsident, Sie müssen das entscheiden. Ich antworte gern noch einmal zu Tempelhof, aber eigentlich sind wir in einer anderen Debatte.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich gebe Ihnen die Gelegenheit dazu.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Gut.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Bitte, Herr Mücke.

(Klaus Uwe Benneter (SPD): Die Frage sollte auch durch Volksentscheid entschieden werden!)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Die Frage sollte durch einen Volksentscheid entschieden werden, meint Herr Benneter. Das wäre spannend.

(Beifall bei der LINKEN)

Jan Mücke (FDP):
Herr Kollege Gysi, Sie haben gerade freundlicherweise festgestellt, dass Sie selbstverständlich Bürgerentscheide und Volksentscheide für rechtlich bindend ansehen und sich die Linke entsprechend verhalten werde. Wie erklären Sie sich dann, dass sich Ihre Partei in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden bei der Frage der Waldschlösschenbrücke anders verhalten

(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ja!)

und drei Jahre lang einen rechtlich bindenden Bürgerentscheid nach Strich und Faden hintertrieben und ausgehebelt hat?

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Da hätten Sie sagen müssen: die Hälfte der Fraktion; denn die andere Hälfte der Fraktion hat eine gänzlich andere Auffassung.

(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

Das kennen Sie nicht, dass man in einer Partei unterschiedliche Auffassungen haben kann. Aber in unserer gibt es das, während es bei Ihnen so ist, dass Sie immer im Nachhinein Ihre Auffassungen ändern. Das finde ich viel übler.
Im Übrigen sage ich Ihnen ganz klar: Ich hätte immer respektiert, was durch den Volksentscheid entschieden worden war. Das ist völlig richtig.

(Jan Mücke (FDP): Also sind Sie für die Brücke?)

- Da müssen wir noch bestimmte Prozesse durchmachen. Aber in Berlin ist die Situation eine andere. In Dresden hätte man so verfahren können.
In Berlin ist die Sache eine andere, weil hier Bedingungen durch die CDU, die FDP und vor allen Dingen die Landesregierung unter der CDU geschaffen worden sind, an denen wir nicht vorbeikommen. Ich bin dafür, dass wir Dresden als Kulturstadt erhalten. Man muss die Drohungen, die von den entsprechenden Institutionen aus Europa kommen, ernst nehmen. Deshalb bin ich dafür, dass sich alle Politikerinnen und Politiker in Dresden Gedanken darüber machen, wie man vielleicht beides hinbekommt, also die Verkehrsprobleme löst und gleichzeitig Dresden als Kulturstadt erhält.

(Beifall bei der LINKEN)

Mir greift die Aussage „Entweder das eine oder das andere“, diese Kompromisslosigkeit einfach zu kurz.

(Manfred Grund (CDU/CSU): Sie kennen nur Ja und Nein! Dr. Carl-Christian Dressel (SPD): Eierlegende Wollmilchsau!)

- Ich bin gerne bereit, Ihnen weiter zu antworten, wenn der Herr Präsident es mir erlaubt.
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Ich war sehr großzügig, Herr Gysi, das müssen Sie zugeben.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Sie müssen zugeben, dass ich daran unschuldig war oder höchstens halbschuldig.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Jetzt lasse ich keine Zwischenfragen mehr zu.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Das ist sehr freundlich.

Dann komme ich jetzt auf die Renten zurück. Ich möchte Ihnen sagen, welche Gruppen vor allem benachteiligt sind. Es sind die Frauen, zum Beispiel die geschiedenen Frauen, weil es in der DDR ein ganz anderes Recht als das gab, das heute gilt. Dadurch haben sie keine Ansprüche auf Rentenanteile. Damit muss man sich einmal beschäftigen. Es gibt aber noch weitere Sachverhalte, die es in der DDR gab und die es heute nicht gibt. Die Bundesregierung reagierte darauf nur dadurch, dass sie sagte: Sachverhalte, die wir nicht kennen, können wir nicht akzeptieren. Ich nenne Ihnen nur zwei Beispiele.
Die privaten Handwerker, Selbstständige, hatten mithelfende Familienmitglieder. So etwas gab es in dieser Form im Bundesrecht nicht. Diese mithelfenden Familienmitglieder waren nicht selbst versichert, aber sie waren automatisch mitversichert und erwarben einen Rentenanspruch. Diese Zeiten werden einfach nicht anerkannt. Vorwiegend Frauen haben dadurch keine Rentenanwartschaft erworben. Das können wir doch nicht so belassen. Das ist einfach nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein zweites Beispiel: Es gab bei uns in der DDR die Möglichkeit, freiwillig Beiträge zu leisten. Die waren gering und betrugen etwa 2, 3 Mark. Aber die Höhe der Beiträge war für die Höhe der Renten nicht entscheidend, sondern die Jahre der Beitragszahlungen waren entscheidend. Diese Jahre werden jetzt nicht anerkannt. Dadurch sind wiederum überwiegend Frauen ganz erheblich benachteiligt. Das ist nicht hinnehmbar.

(Beifall bei der LINKEN)

Deshalb haben wir hier Anträge auch zu Gruppen gestellt, bei denen man sich das am wenigsten vorstellen kann. Ich meine die Polizisten und die NVA-Angehörigen, an deren Biografie man gar nichts auszusetzen hatte und die man deshalb in die Polizei und die Bundeswehr übernommen hat. Auch die sind rentenrechtlich benachteiligt, weil ihre Zeiten nicht anerkannt werden. Auch die, die ausgeschieden sind, sind benachteiligt. Somit sind beide Gruppen benachteiligt. Deshalb mussten wir 16 Anträge stellen und einen Gesetzentwurf einbringen.
Ich wollte jetzt eigentlich alle Gruppen nennen, aber Sie haben mir ja die Zeit restlos versaut. Deshalb sage ich nur noch Folgendes zum Schluss: Es wäre schon wichtig gewesen, aufzuzählen, um welche Gruppen es geht. Es geht zum Beispiel um private Handwerker und Selbstständige. Nie haben Sie von der FDP einen Antrag zu diesen Gruppen gestellt. Sie behaupten immer, Sie würden diese Leute vertreten, aber nur wir haben Anträge gestellt, damit deren Rentenansprüche endlich anerkannt werden.

(Beifall bei der LINKEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Geht es Ihnen auch um die Staatssicherheit?)

Ich weiß, das ist Ihr Lieblingsthema. Sie werden gleich dazu kommen.
Lassen Sie mich noch etwas zu Ost-West sagen. Denn in einer großen, sehr bebilderten Zeitung steht immer, dass die Ostrentnerinnen und Ostrentner mehr Geld als die Westrentnerinnen und Westrentner bekämen. Diese Zeitung vergleicht jedoch Ehepaare miteinander. Das ist höchst ungerecht, weil bei Ehepaaren im Osten beide Partner Renten beziehen und bei Ehepaaren im Westen nur der Mann und nicht die Frau. Das ist völlig indiskutabel. Das kann man nicht miteinander vergleichen.
Zweitens vergessen Sie zwei Dinge, die ich durchaus zum Nachteil der DDR anführe. Es gab dort so gut wie keine Betriebsrenten, und es gab so gut wie keine Vermögensbildung.

(Dr. Ralf Brauksiepe (CDU/CSU): Da wurde auch nichts eingezahlt!)

Das heißt, die Altersversorgung im Westen steht auf drei Füßen, aber die Leute aus den neuen Bundesländern bekommen nur die gesetzliche Rente.
Deshalb müssen wir eines endlich erreichen: dass man für die gleiche Lebensleistung auch die gleiche Rente bezieht. Sie sollten sich dem nicht länger verschließen.

(Beifall bei der LINKEN - Manfred Grund (CDU/CSU): Lebensleistung, die ihr kaputtgemacht habt!)