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Zusammen sind wir klüger!

Rede von Halina Wawzyniak,

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Als ich 16 war, riefen die Menschen: Wir sind das Volk!

(Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hast du mitgerufen?)

Ein Staat brach zusammen, und das nicht ohne Grund. Demokratische Mitwirkungsmöglichkeiten entwickelten sich von null auf 100. Es herrschte Aufbruchstimmung. Die Menschen fühlten sich ernst genommen und mitgenommen. Wichtige politische Entscheidungen wurden am Runden Tisch gefällt, an dem Vertreterinnen und Vertreter aller gesellschaftlichen Organisationen saßen. Das war gelebte Demokratie.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Runde Tisch entwickelte sogar einen Verfassungsentwurf. In diesem Verfassungsentwurf stand in Art. 89: Die Gesetze werden durch die Volkskammer oder durch Volksentscheid beschlossen. Art. 98 des Verfassungsentwurfs enthielt Regelungen zum Volksentscheid. Für mich war das die demokratischste Zeit, die ich in meinem ganzen Leben erlebt habe. Es hätte der alten Bundesrepublik gutgetan, sich dieses Entwurfes des Runden Tisches anzunehmen, anstatt die Ideen des demokratischen Aufbruchs einfach zu ignorieren; aber genau das ist geschehen.

(Beifall bei der LINKEN)

Auch deshalb gibt es immer noch keine Möglichkeit der Bevölkerung, jenseits von Wahlen direkt auf politische Prozesse Einfluss zu nehmen. Beantworten Sie mir die Frage Sie haben das bisher nicht getan , warum das auf Landesebene möglich ist, aber auf Bundesebene unmöglich sein soll.

(Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Wir haben mit 17 Sachverständigen darüber gesprochen!)

Wovor haben Sie eigentlich Angst?

Derzeit erleben wir eine Unzufriedenheit mit der Parteiendemokratie, und zwar zu Recht. Wir erleben Unzufriedenheit mit der Arbeit des Parlamentes, und zwar zu Recht.

(Jimmy Schulz (FDP): Aber das liegt doch an Ihnen!)

Wir beschließen Gesetze im Hauruckverfahren. Relevante Ausschusssitzungen sind nicht öffentlich. Bei der Gesetzgebung fehlen Informationen, zum Beispiel: Welcher Leihbeamte hat gerade für welches Unternehmen an welchem Gesetzentwurf mitgearbeitet? Im Jahr 2007 saßen mindestens 100 Beschäftigte von Unternehmen und Verbänden in den Ministerien und arbeiteten an Gesetzesvorlagen. Wir fordern das Verbot von Leihbeamten in Ministerien.

(Beifall bei der LINKEN)

Es fehlt auch an Zahlenmaterial. Wir reden über Netzneutralität und darüber, dass es zu Datenstaus kommt, aber wir wissen nicht, wo und wann. Es gibt Zusatzvereinbarungen, die am Parlament vorbei getroffen werden, zum Beispiel beim Atomdeal.
Bundestagspräsident Lammert spricht ich habe es schon zitiert von einem Hauruckverfahren in der Gesetzgebung. Damit hat er recht. Bettina Gaus spricht in der taz von einer Alibiveranstaltung, die wir hier abhalten. Damit hat sie recht. Wir können das parlamentarische Verfahren verbessern. Einverstanden! Wir können aber auch weitergehen und mehr Demokratie wagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir können innerhalb des Parlaments mehr Transparenz einführen, beispielsweise durch konsequent öffentliche Ausschusssitzungen. Wir können ein verpflichtendes Lobbyistenregister einführen. Der Gesetzentwurf meiner Fraktion sieht beispielsweise vor, dass ein Gesetzentwurf, sobald eine Person außerhalb des Bundestages oder der Bundesregierung ihn erhält, für alle öffentlich zugänglich sein muss. Wir können zudem das Akteneinsichtsrecht für Bürgerinnen und Bürger erweitern. Niemand hindert uns daran, das emanzipatorische Potenzial des Internets zu nutzen und auch auf diesem Weg den Einfluss der Bürgerinnen und Bürger zu erhöhen. Warum erlauben wir den Bürgerinnen und Bürgern nach der ersten Lesung nicht, im Rahmen von Internetportalen uns ihre Meinung kundzutun, um dann darüber zu entscheiden, ob wir die Anregungen aufnehmen wollen?

(Beifall bei der LINKEN)

Wir leben in einer Zeit, in der faktisch neue Verfahren zur Konfliktbewältigung eingeführt werden, weil sie notwendig sind. Ich nenne die Schlichtung zu Stuttgart 21, aber auch die Mediation betreffend den Frankfurter Flughafen. Diese neuen Verfahren belegen: Das Interesse der Menschen an politischen Prozessen ist groß. Sie sind nicht politikverdrossen, sie sind parteienverdrossen. Erweitern wir unsere parlamentarische Demokratie, die mehr und mehr zu einer Demokratie der vermeintlichen Eliten wird. Nehmen wir Art. 20 Abs. 2 GG ernst: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“.

(Beifall bei der LINKEN)

Und an uns Parteien gerichtet: Setzen wir Art. 21 Abs. 1 Satz 1 „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ um. Es gibt kein Monopol von Parteien auf politische Willensbildung.

Auch deshalb haben wir eine Vorlage vorgelegt, die Spenden von Unternehmen und Wirtschaftsverbänden an Parteien verbietet und Spenden von natürlichen Personen beschränkt. Alle Menschen, die hier länger leben, müssen die Möglichkeit haben, auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen, auch durch Beteiligung an Volksinitiativen, Volksbegehren, Volksentscheiden und Wahlen.

Am 8. Juli haben wir das erste Mal über ein konkret auf dem Tisch liegendes Angebot für mehr direkte Demokratie geredet. Heute wird sich zeigen, wie die mediale Sommerlochforderung nach mehr direkter Demokratie praktisch ihre Umsetzung findet. Auch deshalb haben wir namentliche Abstimmung beantragt. Sie von der SPD haben in den Medien im Sommer immer wieder die Forderung nach mehr direkter Demokratie erhoben. Bislang blieb es allein bei der Forderung. Sie haben keine Anstalten im Bereich der direkten Demokratie unternommen. Auch Ihr großer Vorsitzender ist heute nicht da. Ich kenne die Kritik von Grünen, SPD und FDP.

Über die Union rede ich nicht; die ist in dieser Frage nicht satisfaktionsfähig. Obwohl: Der neu gewählte Verfassungsrichter Prof. Dr. Peter Huber hat sich in der Festschrift „20 Jahre Mehr Demokratie e.V.“ für eine weitere Beförderung der direkten Demokratie auch auf Bundesebene ausgesprochen. Vielleicht überzeugt er Sie.

Grüne und SPD wenden ein, die Quoren seien zu niedrig. Bereits am 8. Juli habe wir Ihnen angeboten, mit uns darüber zu reden. Wo sind Ihre Änderungsanträge? Statt im Sommer große Töne zu spucken, hätten Sie mit uns reden können, wenn es Ihnen mit diesem Thema wirklich ernst ist.

(Beifall bei der LINKEN)

Der Justizministerin will ich in Erinnerung rufen, was Sie in der Festschrift „20 Jahre Mehr Demokratie“ gesagt hat: Die Zeit ist reif, dass, beginnend mit der Volksinitiative, zumindest schrittweise plebiszitäre Elemente auch auf Bundesebene eingeführt werden.

Die Einwände des Rests sind absurd. Herr Brandt hat gesagt und Herr Wellenreuther hat das heute wiederholt , es handele sich um eine populistische Forderung der Linken, die keinen Nutzen für die Demokratie habe. Er hat weiter ausgeführt: „Volksabstimmungen bergen die Gefahr des Missbrauchs und der politischen Destabilisierung in sich“. Er hat damals sogar noch auf die Weimarer Republik offensichtlich ohne Geschichtskenntnis Bezug genommen. Stefan Schmitz spricht im Stern von einem Zweckargument. Der Wissenschaftler Otmar Jung von der FU Berlin sagt: Nicht die Erfahrungen aus der Weimarer Republik hatte der Parlamentarische Rat im Blick, als er für die Nichtaufnahme direktdemokratischer Elemente plädierte. Woher hätten im Übrigen auch die negativen Erfahrungen aus der Weimarer Republik kommen sollen? Von acht Volksbegehren zwischen 1919 und 1933 gelangten gerade einmal zwei zur Abstimmung.

Herr Brandt und Herr Wellenreuther, Sie haben gesagt: Mit Volksabstimmungen kann man schwierige und komplexe Fragestellungen unserer pluralistischen Welt nicht gerecht werden. Im Parlament würden Expertengespräche geführt, Sachverständigenanhörungen durchgeführt und Folgeabschätzungen vorgenommen. Herr Frieser hatte damals ergänzend gefragt: Wie wollen Sie Sachverständigenanhörungen und Sachverständigengremien in Volksabstimmungen einbeziehen? Meine Antwort könnte einfach sein. Wir könnten die Einbeziehung so gestalten wie hier im Parlament: als Alibiveranstaltung.

(Zuruf von der FDP: Sie brauchen keine Sachverständigen!)

Aber ernsthaft: Der Prozess der dreistufigen Volksgesetzgebung dauert länger als die Hauruckverfahren im Parlament. Es gibt eine öffentlich-mediale Begleitung. Mehr Sachverstand ist gar nicht möglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Erklären Sie mir einmal: Wieso kann man mit Volksabstimmungen den immer schwierigeren und komplexeren Fragestellungen der pluralistischen Welt nicht gerecht werden, im Parlament aber schon? Sie haben wieder das Argument vorgebracht, man könne bei Volksabstimmungen nur mit Ja oder Nein stimmen. Entschuldigung, aber das machen wir hier den ganzen Tag.

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Formal findet hier eine Folgenabschätzung statt, aber eben nur formal. Tatsächlich geht es immer um einen inhaltlich-konkreten Vorschlag. Dieser steht allein zur Abstimmung. Alle gesellschaftlichen Aspekte dieses Vorschlags werden nicht in einem breit angelegten Prozess beleuchtet. Wenn wir das wollen, gründen wir eine Enquete. Eine Volksgesetzgebung mit einem dreistufigen Verfahren dauert viel länger; darauf habe ich schon hingewiesen. Dadurch bleibt viel mehr Zeit, um sich Gedanken über die Dinge zu machen. Hier verlassen wir uns auf Experten und beschließen Gesetzentwürfe wie den zur Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken.

Herr Brandt und Herr Wellenreuther haben gesagt, die Gefahr bestehe, dass bei wichtigen Fragen nicht nach sachbezogenen Gesichtspunkten entschieden wird, sondern danach, welche Interessengruppe die bessere Lobbyarbeit macht.

(Helmut Brandt (CDU/CSU): So ist es!)

Dazu sage ich Ihnen: Total überzeugend! Tun Sie doch nicht so, als würde das hier im Parlament nicht so laufen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wir entscheiden doch mitnichten allein nach sachbezogenen Gesichtspunkten.

(Helmut Brandt (CDU/CSU): Das ist bei Ihnen sicherlich der Fall! Darin unterscheiden wir uns gerade!)

Der Einfluss von Lobbyisten auf parlamentarische Entscheidungsprozesse ist nachgewiesen. Worin besteht bitte der Unterschied zwischen dem Einfluss von Lobbyisten auf Entscheidungen der Parlamente und dem Einfluss von Lobbyisten auf die Volksgesetzgebung?

Im Übrigen sind Politikerinnen und Politiker genauso anfällig für Populismus wie die Bevölkerung. Steigen wir also ab vom hohen Ross! Hören wir auf, so zu tun, als seien wir besser und kompetenter als der Durchschnitt der Bevölkerung! Das ist Quatsch.

Die Linke hält, was sie verspricht. Unser konkretes Angebot liegt auf dem Tisch. Sie können entscheiden: Ja oder nein? Da für die Änderung eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist, wird das Vorhaben an der Blockadehaltung der Union scheitern, wie wir wissen. Insofern können die anderen Fraktionen ein Symbol setzen und zeigen, dass sie für mehr direkte Demokratie sind, dass sie die Bürgerinnen und Bürger mitentscheiden lassen wollen.

Seien Sie beruhigt: Sie stünden damit auf der Seite der Mehrheit der Bevölkerung. Die neueste Forsa-Umfrage belegt, dass sich 79 Prozent der Bürgerinnen und Bürger Volksentscheide auch auf Bundesebene wünschen.

Demokratie, insbesondere direkte Demokratie, ist Zumutung und Versprechen zugleich: Zumutung für die Parteien und Abgeordneten, Versprechen für die Bürgerinnen und Bürger. Wir sollten uns diese Zumutung zumuten.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN Helmut Brandt (CDU/CSU): Das ist ja wie früher bei euren Parteitagen!)