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Zur Würde des Menschen gehört nicht nur sein Leben

Rede von Petra Sitte,

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

In der Antike geboren, entwickelte sich über Jahrhunderte die Idee, dass der Mensch über sich selbst, über seinen eigenen Körper und Geist souverän ist.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Er besitzt in seiner Natur begründete angeborene Rechte. Im 19. Jahrhundert fand diese Idee Eingang in die deutsche Rechts- und Verfassungsgeschichte. Danach kann der Rechtsstaat diese Rechte nicht etwa verleihen; nein, meine Damen und Herren, er hat sie zu garantieren.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Insbesondere auch die Väter und Mütter des Grundgesetzes, obwohl sie alle anderen Gründe gehabt hätten, haben großen Wert auf die Souveränität des Individuums gelegt.

Ich frage mich nun also: Was ist in den letzten Jahren in diesem Land passiert, dass ein Teil des Parlaments meint, jetzt so massiv in diese Souveränität eingreifen zu müssen?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Gibt es irgendeinen wissenschaftlich untersuchten Beweis für die Notwendigkeit? Nein. Es ist vorhin schon gesagt worden: Es gibt keinen. – Das wissen Sie so gut wie ich. Nicht zuletzt wegen dieses Umstands hat die letzte Bundesregierung ihren damaligen Gesetzentwurf zurückgezogen.

Als Hauptgründe für eine Strafrechtsverschärfung hört man nun:

Erstens heißt es, die Rechtslage der Ärzte sei unklar. Je nach Landesärztekammer – das stimmt – ist sie im Standesrecht verschieden geregelt: Das geht von „keine Regelung“ bis zum Verbot. Dabei könnte das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts von 2012 für Klarheit sorgen. Es heißt dort – ich zitiere -:

Der ärztlichen Ethik lässt sich kein klares und eindeutiges Verbot der ärztlichen Beihilfe zu Suizid in Ausnahmefällen entnehmen.

Damit ist alles gesagt.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Zweitens stehen Sterbehilfevereine in der Kritik. Roger Kusch mit Sterbehilfe Deutschland gilt als das schwarze Schaf. Nur, mit ihm beschäftigen sich regelmäßig Ermittlungsbehörden und Gerichte. Also: Unser Rechtsstaat funktioniert doch hier augenscheinlich ziemlich gut, auch ohne strengere Gesetze.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Die Vereine Dignitas oder Exit bieten Suizidassistenz an, aber nach Schweizer Recht, nicht nach deutschem Recht. Da haben wir gar nicht einzugreifen. Sie sind also schon jetzt streng reguliert. Andere Sterbehilfevereine, meine Damen und Herren, gibt es in Deutschland gar nicht.

Was es aber schon gibt, ist die Sorge, dass sich Vereine neu bilden könnten. Die Gesetzentwürfe der Gruppen um Herrn Hintze bzw. um Frau Künast nehmen diese beiden Punkte ernst. Wir stellen aber nicht die Selbstbestimmung der Menschen infrage. Wir wollen wegen diffuser Besorgnisse nicht in Grundrechte eingreifen. Ursprünglich wollten wir eigentlich an der Rechtslage auch gar nichts ändern. Aber unsere Entwürfe sind jetzt vor dem Hintergrund einer Verbotsdebatte auch in dem Geist entstanden: besser den bewährten Rechtszustand schützen, als der Bevölkerung, auch der konfessionell gebundenen Bevölkerung, gegen ihren mehrheitlichen Willen das Strafrecht aufzuzwingen.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Rechtfertigen nun die gefühlten oder geglaubten Gründe für ein Verbot oder für eine massive Einschränkung der Sterbehilfe wirklich eine solch historische Mission, dass der 18. Deutsche Bundestag der Meinung ist, Normen und Werte einer Jahrhunderte andauernden liberalen Tradition durch eine Strafrechtsverschärfung über Bord werfen zu dürfen? Das entspräche vielleicht den theologischen Vorstellungen der großen Religionsgemeinschaften. Aber wir, meine Damen und Herren, sind das Parlament eines säkularen Staates.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Menschen in diesem Land wollen ihre Sinnwelten und ihre Selbstbestimmung leben. Der Bundestag würde mit einem Verbot oder mit einer Strafrechtsverschärfung essenziell Selbstbestimmungsrechte aus Artikel 1 des Grundgesetzes einschränken, und zur Würde des Menschen gehört eben nicht nur sein Leben und dessen selbstbestimmte Gestaltung, sondern es gehören auch Sterben und Tod dazu. Wieso soll es in diesen Phasen anders sein?

Wieso, so frage ich Sie, meine Damen und Herren, die Sie für eine Strafrechtsverschärfung sind, haben Sie bei solchen Entscheidungen ein solch tiefes Misstrauen gegenüber den Menschen in diesem Land? Wieso sollen diese nicht sehr bedacht genau darüber viele Jahre nachgedacht haben, aus ihrer konkreten Situation heraus mit Angehörigen geredet haben usw.?

Und schließlich: Wieso glauben Sie, meine Damen und Herren, dass nachfolgende Generationen nicht genauso mit den Freiheiten umgehen können, die uns die gültige Rechtslage seit über 140 Jahren bietet? Wenn sich bis heute keine gravierenden Fehlentwicklungen eingestellt haben, warum bitte sollen nachfolgende Generationen verantwortungsloser als wir entscheiden?

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)

Auch deshalb sei gesagt: Eines Verbots- oder Verschärfungsgesetzes bedarf es nicht. Deshalb werbe ich dafür: Begegnen Sie dem Verbotsentwurf der Gruppe um Herrn Sensburg und der unverhältnismäßigen Strafrechtsverschärfung der Gruppe um Herrn Brand und Frau Griese mit einem Nein!

Danke für die Aufmerksamkeit.

(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)