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Zukunft für den ländlichen Raum sieht anders aus

Rede von Kirsten Tackmann,

Rede zur 2. Lesung des Haushaltsgesetzes 2007, Einzelplan 10 (Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz), DS 16/3110 und 3123

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Gäste! Lassen Sie mich gleich zu Anfang die zwei größten Sünden des Einzelplans 10 im Haushalt 2007 nennen: erstens die Senkung des Zuschusses an die landwirtschaftliche Unfallversicherung das wurde schon angesprochen und zweitens die aus meiner Sicht viel zu geringen Bundesmittel für die Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“.
(Manfred Zöllmer (SPD): Das stimmt doch gar nicht!)
Ich habe nicht davon gesprochen, dass sie gesenkt wurden, sondern davon, dass sie zu gering sind.
Wie ein schwarz-rosa Faden zieht sich folgender Grundsatz durch die Koalitionspolitik: Mittel- und langfristig werden vor allem Menschen benachteiligt, die ohnehin schon benachteiligt sind.
(Hans-Michael Goldmann (FDP): Ach Gott!)
Dabei müssen die Umfrageergebnisse doch die Alarmglocken läuten lassen. Eine deutliche Mehrheit sieht ein Gerechtigkeits- und Demokratiedefizit in dieser Gesellschaft. Das hat, liebe Kolleginnen und Kollegen, auch mit Regierungspolitik zu tun. Die Menschen erwarten zu Recht, dass der Gesetzgeber die Schwachen vor den Starken schützt und nicht umgekehrt. Das Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz festgeschrieben. Dort steht ergänzend: Das Eigentum muss zum Gemeinwohl verwendet werden. Tatsächlich erleben wir aber, dass sich der Staat durch Steuersenkungen bei den Reichen und Reichsten selbst arm macht, um uns dann zu erklären, dass er sparen muss, vor allem bei den Menschen, die ohnehin wenig haben. Das ist eine sehr merkwürdige Logik.
Nehmen wir das Beispiel der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Dass wir bei der LUV über einiges neu nachdenken müssen, ist unbestritten. Die Bemessungsgrundlage könnte sich stärker am tatsächlichen Unfallrisiko orientieren. Wir brauchen sicherlich auch mehr Transparenz und Gerechtigkeit bei den Beitragsbemessungen und effektivere Trägerstrukturen. Aber die Koalition streicht erst einmal 100 Millionen Euro Bundeszuschüsse. Das kann kaum ohne Folgen für die Beiträge bleiben. Die Streichung soll zwar 2007 aus mehreren Quellen kompensiert werden; aber das Ziel ist doch klar. Begründung ist die Kassenlage, und das, obwohl die Beitragszahlungen gerade denen am schwersten fallen, die auf die Versicherungsleistungen im Ernstfall am meisten angewiesen sind.
(Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Genau!)
Um nicht falsch verstanden zu werden: Bestehendes zu prüfen, ist absolut richtig. Aber das Ziel der Überlegungen muss aus meiner Sicht eine landwirtschaftliche Unfallversicherung sein, die erstens leistungsfähig und zweitens bezahlbar ist.
(Peter Bleser (CDU/CSU): Richtig!)
Eine Privatisierung wird das nicht leisten, zumal Zwangsbeiträge nur in einer gesetzlichen Unfallversicherung europarechtskonform und verfassungsgemäß sind. Bei Privatisierungen müsste vermutlich die Versicherungspflicht für die Betriebe abgeschafft werden. Aus Sicht des Einzelnen mag das vielleicht sogar sinnvoll sein solange nichts passiert. Aber wie dringend erforderlich die Unfallversicherung ist, zeigt ein Blick auf die so genannten Altfälle, also Verunfallte, für die Rentenzahlungen erfolgen. Circa 400 Millionen Euro werden dafür pro Jahr gebraucht. Wer will angesichts einer solchen Summe noch behaupten, dass die Unfallversicherung nicht benötigt wird?
(Beifall bei der LINKEN)
Außerdem ist eine bezahlbare landwirtschaftliche Unfallversicherung auch im gesamtgesellschaftlichen Interesse. Wer durch eine fehlende Unfallversicherung zum Sozialfall wird, muss letzten Endes doch wieder vom Staat bezahlt werden.
Es gibt Beispiele dafür, dass ein solidarisches Versicherungssystem auch in der Landwirtschaft zukunftsfähig gemacht werden kann. Die Versicherungen im Gartenbaubereich zeigen, dass man durch Zentralisierung der Datenverwaltung und branchenspezifische Anpassungen Einsparungen realisieren kann. Vielleicht kann man sich das ja einmal ansehen und davon lernen.
(Beifall bei der LINKEN)
Kommen wir zur zweiten Sünde, der Gemeinschaftsaufgabe „Agrarstruktur und Küstenschutz“. Ich hoffe, Sie erwarten keine lobende Erwähnung dafür, dass Sie die Bundesmittel für 2007 nicht noch einmal gekürzt haben. Das ist nämlich angesichts der dramatischen sozialen Situation in ländlichen Räumen viel zu wenig.
(Beifall bei der LINKEN)
Minister Seehofer hat am 6. November 2006 in der „Passauer Neuen Presse“ einen Marshallplan für den ländlichen Raum angekündigt. Das würde aus meiner Sicht eine glatte Kehrtwende in der bisherigen Regierungspolitik erfordern. Aber mir fehlt der Glaube daran.
Im Moment sind die Dörfer die großen Verlierer. Sie verlieren Kaufkraft, Bus und Bahn, Banken, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und dadurch die Zukunft, Familien und Kinder.
Sie haben nicht nur weniger Bundesmittel im Einzelplan 10 als noch vor Jahren, sondern es fehlen gleichzeitig die Kofinanzierungsmittel der Länder und EU-Mittel aus der zweiten Säule. Die Konsequenzen aus den fehlenden Bundesmitteln sind in den Länderförderprogrammen abzusehen: Die Mittel für Agrarumweltprogramme werden massiv gekürzt, obwohl sie gerade in Regionen mit kleinbäuerlicher Struktur ein sozial stabilisierender Faktor mit zunehmender Bedeutung sind.
(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE))
Die Förderung des ökologischen Landbaus wird reduziert, zum Teil sogar komplett gestrichen, obwohl die Nachfrage gerade in diesem Sektor durch inländische Produkte gar nicht mehr abgedeckt werden kann. Hier werden einer Zukunftsbranche die Chancen genommen. Auch die Ausgleichszulage wird nicht mehr vollständig gezahlt.
Gerade mit den Mitteln der Gemeinschaftsaufgabe aber könnten soziale, ökologische und ökonomische Interessen gemeinsam gedacht werden, was wir für dringend erforderlich halten. Mit ihnen könnte der benötigte strukturpolitische Handlungsspielraum in den ländlichen Räumen zurückgewonnen werden. Dabei geht es auch um den Erhalt von Kulturlandschaften, die mit der langen Tradition landwirtschaftlicher Nutzung verbunden sind. Europa hat die vielfältigsten agrarischen Kulturlandschaften. Das ist ein kulturelles Erbe, das es zu erhalten gilt. Das geht nicht ohne Arbeit. Diese muss vernünftig bezahlt werden. Dafür werden nicht gleich bleibend wenig, sondern mehr finanzielle Mittel gebraucht.
(Beifall bei der LINKEN)
Auch beim jetzt diskutierten Konzept zur Agrarressortforschung Herr Schirmbeck ist schon darauf eingegangen werden vor allen Dingen wissenschaftliche Arbeitsplätze abgebaut. Dabei handelt es sich oft um die letzten Arbeitsplätze dieser Art in den ländlichen Räumen. Nach einem Marshallplan für den ländlichen Raum sieht das nun wirklich nicht aus.
(Beifall der Abg. Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) - Georg Schirmbeck (CDU/CSU): In Neuruppin entstehen 70 neue Arbeitsplätze!)
Kommen wir nun zum Verbraucherschutz. Hier verhält es sich wie mit einer umetikettierten Packung Gammelfleisch. Von außen betrachtet könnte man zufrieden sein; immerhin ist der Etatposten erhöht worden. Was für eine schöne Verpackung! Aber beim Öffnen riecht es dann doch ranzig. Dieser Haushaltsplan wird weder den bestehenden noch den erkennbaren Problemen der Zukunft gerecht.
Wir wissen, dass wir ein Problem bei der Durchsetzung des Verbraucherschutzes haben. Wir brauchen ein bundeseinheitliches Handeln; das kollidiert allerdings mit Länderzuständigkeiten. Die Fraktion Die Linke hat einen Bund-Länder-Staatsvertrag vorgeschlagen, um eine verbindliche Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern zu organisieren. Das Problem ist erkannt, aber unser Lösungsvorschlag wurde abgelehnt.
In einem anderen Fall haben Sie genau diese Lösung angewendet. Oh Wunder, der Anstoß kam durch die Pflicht, eine EU-Verordnung auf nationaler Ebene umzusetzen. Ohne das übliche Kompetenzgerangel wurde das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit, obwohl Bundesbehörde, als zentrale Verbindungsstelle zu den europäischen Mitgliedsländern installiert. Es soll künftig alle ausländischen Rechtshilfeersuchen entgegennehmen und bundesweit die Kompetenz zur Durchsetzung des Verbraucherschutzes gegenüber deutschen Firmen haben. Es geht doch!
(Zuruf von der SPD: Das ist etwas anderes!)
Das Merkwürdige ist: Im Ausschuss wurde mir gesagt, dass für diese Aufgabe keine zusätzlichen Mittel notwendig sind, was mich ein bisschen gewundert hat. Im Haushaltsplan steht jetzt, dass im BVL zum 1. Juni 2006 rund 46 Stellen unbesetzt waren; gleichzeitig wird aber der Personaletat um 2,18 Millionen Euro erhöht. Ich habe schon in der ersten Lesung des Haushaltes nachgefragt, wie denn die Erhöhung der Mittel beim BVL und beim BfR sachlich begründet wird. Das bleibt für mich auch nach den Haushaltsverhandlungen sehr nebulös.
Aber kommen wir noch einmal auf die ländlichen Räume zurück. Auch hinsichtlich der Verbraucherberatung werden sie abgehängt. Die Bundesregierung fördert das ist gut die Angebotsseite der Verbraucherberatung wie zum Beispiel die Verbraucherzentrale Bundesverband. Wie aber die Verbraucherinnen und Verbraucher an die Informationen kommen, bleibt ihnen selbst überlassen. Wer kein Internet hat, hat halt Pech. Dabei wissen wir doch, dass immer mehr ältere Menschen in den strukturschwachen ländlichen Räumen leben. Es ist also heute umso wichtiger, Informationszugänge barrierefrei und in möglichst geringer räumlicher Distanz zu ermöglichen.
(Ulrich Kelber (SPD): Das ist Länderaufgabe!)
Die Sicherung von Beratungsleistungen ist außerdem besonders wichtig für sozial Benachteiligte, die sich Internet und Fax nicht leisten können. Auch Bürgerinnen und Bürger mit eingeschränkter Mobilität haben ein Recht auf erreichbare Informationsangebote.
Wir brauchen Antworten auf die Ausdünnung der Beratungsnetze und die steigenden Mobilitätskosten. Die Linke hatte dazu für den Haushaltsplan 2007 ein Modellprojekt vorgeschlagen. In den strukturschwachen Räumen sollten die Kommunalstrukturen für die Verbraucherberatung genutzt werden. Beispielsweise Gemeindeverwaltungen oder fahrende Bibliotheken könnten den Beratungswunsch von Verbraucherinnen und Verbrauchern entgegennehmen und im Internet die zuständige Verbraucherzentrale heraussuchen. Die relevanten Dokumente könnten dort auch gleich eingescannt und an die zuständige Verbraucherzentrale übermittelt werden.
Damit uns nicht wieder der Vorwurf gemacht wird, wir könnten nur Geld ausgeben, haben wir sogar vorgeschlagen, die 142 000 Euro durch Umschichtungen gegenzufinanzieren. Aber leider ist auch hier der Ablehnungsreflex der Koalition offensichtlich schneller als der Prozess des Nachdenkens.
(Georg Schirmbeck (CDU/CSU): Na ja!)
Denn das Problem bleibt doch: Im Verbraucherschutzindex 2006 des vzbv wird bereits für sechs Bundesländer die Erreichbarkeit der Beratungsstellen als nicht ausreichend oder ungenügend ausgewiesen.
(Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Skandal!)
Dass der Haushaltsausschuss angesichts eines Etats von 5,2 Milliarden Euro für den Einzelplan 10 diesen 142 000 Euro nicht zugestimmt hat, zeigt, welchen Stellenwert die Probleme der Menschen im ländlichen Raum bei Ihnen haben.
(Beifall bei der LINKEN - Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE): Ignorant!)
Fazit: Dieser Haushaltsplan ist aus unserer Sicht eine Mogelpackung; die Zukunftsfähigkeit wird vorgetäuscht. Deswegen werden wir den Einzelplan 10 ablehnen.
Recht herzlichen Dank.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN - Ulrich Kelber (SPD): Kürzungen in Bayern und Hessen soll jetzt der Bund ausgleichen? - Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann (FDP): So schlecht war der Vorschlag nicht, Herr Kelber! Denken Sie noch einmal darüber nach!)
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Das Wort hat der Kollege Ernst Bahr von der SPD-Fraktion.