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Wir sind das soziale Korrektiv in diesem Land!

Rede von Gesine Lötzsch,

Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Die deutsche Einheit wird von vielen in dieser Bundesregierung salbungsvoll beschworen und mit viel Geld gefeiert.


(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Dass das der SED nicht gefällt, ist klar!)


Mein Eindruck ist allerdings, dass sich diejenigen selbst am meisten feiern, die am wenigsten für die deutsche Einheit getan haben.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP – Dagmar Ziegler [SPD]: Was haben Sie denn dafür getan?)


Haben Sie sich zum Beispiel schon einmal die Frage gestellt, wie viele der Montagsdemonstranten von 1989 jetzt von Hartz IV leben müssen und dadurch gedemütigt werden? Ist das Ihre Vorstellung von deutscher Einheit? Alle Bundesregierungen der letzten 20 Jahre haben viel getan – der Kollege von der FDP hat es schon angesprochen –, um Zwietracht zwischen Ost und West zu säen.

(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Die taz aus Berlin titelte am Dienstag dieser Woche zutreffend:
„Merkel zementiert neue Mauer“. Die auf der Titelseite abgebildete Hartz-IV-Deutschlandkarte zeigt deutlich die Grenzen der ehemaligen DDR. In Ostdeutschland leben lediglich 15 Prozent der Bevölkerung, aber 34 Prozent der Hartz-IV-Empfänger. Sie haben mit Ihrer Politik aus Ostdeutschland ein Hartz-IV-Land gemacht, und das ist alles andere als eine gelungene deutsche Einheit.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das ist Ihre Vergangenheit!)


Heute gibt es allerdings eine weitere Karte in derselben Tageszeitung. Dort steht, der Osten sei arm, aber schlau. Aber davon profitiert vor allen Dingen der Westen, weil gut ausgebildete junge Leute in den Westen gehen. Nach Ihrer Rede, Herr Kurth, hätte ich allerdings diesen Kommentar am liebsten vergessen. Für Sie trifft er nicht zu.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben die Einheit erst wirklich erreicht, wenn wir sagen können: Wir haben gleiche Renten, gleiche Löhne, die gleiche Anzahl von Kitaplätzen, die gleiche Anzahl von Polikliniken in Ost und West. Das wäre ein gutes Ziel, aber das strebt die Bundesregierung augenscheinlich nicht an. Meine Damen und Herren, sagen wir es ganz deutlich: Alle Bundesregierungen haben dafür gesorgt, dass gut gebildete Ostdeutsche keine Chance bekommen, um in dieser Gesellschaft wirklich aufzusteigen. Es gibt in dieser Bundesregierung keinen Minister und keinen beamteten Staatssekretär, keinen Intendanten einer ARD-Anstalt, keinen Chefredakteur einer überregionalen Tageszeitung,

(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist mit dem Neuen Deutschland?)

keinen Sternegeneral der Bundeswehr und keinen Richter des Bundesverfassungsgerichtes mit einer ostdeutschen Biografie. Das ist wirklich kein Zufall. Nur die Kanzlerin – sie ist gerade verschwunden – stammt aus dem Osten.

(Zurufe von der FDP: „Nur“?)

Aber was hat sie denn für den Osten getan? Was ist aus
ihrem Versprechen geworden, endlich die Renten Ost und West anzugleichen? Kein Wort dazu habe ich seit der Wahl gehört.


(Jörg van Essen [FDP]: Sie bekommen nichts mit!)


Die Ausgrenzung der ostdeutschen Eliten wird mit ihrer Staatsnähe begründet. Wer in der DDR staatsnah war, sollte in diesem Land keine zweite Chance bekommen. Staatsnah war schon jeder DDR-Bürger, der nicht als Partisan in den Thüringer Wald ging, um mit der Waffe in der Hand gegen das Politbüro zu kämpfen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch auch gegen Eliten! Was erzählen Sie denn für einen Unsinn? Das ist eine klare SED-Rede, die Sie hier halten! Was ist denn los?)


Doch selbst die ehemaligen Bürgerrechtler, die die DDR mit allen Mitteln bekämpften, konnten in der bundesdeutschen Elite nicht aufsteigen. Kein einziger ehemaliger Bürgerrechtler ist in der Bundesregierung vertreten.
Sie haben sie alle entsorgt.

(Dagmar Ziegler [SPD]: Sie hätten ja Gauck wählen können! – Thomas Oppermann [SPD]: Warum haben Sie den Gauck nicht gewählt?)

Meine Damen und Herren, wir reden am Tag der Deutschen Einheit immer sehr viel über den Osten; aber die deutsche Einheit hat auch etwas mit dem Westen zu tun. Jetzt stellen wir uns einmal die Frage: Wie hat sich das Leben der Menschen in Westdeutschland seit dem Fall der Mauer verändert?

(Dagmar Ziegler [SPD]: Alles Heuchler!)

Hatten sie die Chance, Dinge aus dem Osten zu bekommen, von denen jetzt viele sagen: „Die hätten wir gerne gehabt“? Ich denke an Kindergartenplätze, Polikliniken, Bildungschancen. Ganz im Gegenteil: Das Leben der Westdeutschen hat sich seitdem verändert, in vielen Fällen verschlechtert: seitdem sinken die Löhne, seitdem gibt es immer mehr Jobs, von denen man nicht leben kann, und seitdem gibt es Hartz IV.
An dieser Stelle will ich etwas länger verweilen. Wir haben in dieser Woche schon sehr viel über Hartz IV diskutiert. Es ist unglaublich, wie diese Bundesregierung arbeitslose Menschen ausspioniert, entmündigt und beleidigt. Was für einen Arbeitslosen gut oder schlecht ist, das will unsere Arbeitsministerin als Supernanny entscheiden. Ich sage Ihnen: Arbeitslose sind keine kleinen Kinder, sondern mündige Bürger.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Partei hat immer recht, egal ob sie SED, PDS oder Linke heißt!)

Ich kenne genügend gebildete Arbeitslose, die weder rauchen noch Alkohol trinken und einfach keine Arbeit bekommen, weil sie über 50 Jahre alt sind. Das ist doch der eigentliche Skandal, und darüber sollten wir hier in diesem Parlament viel deutlicher reden.

(Beifall bei der LINKEN – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sie sind ein Skandal!)

Ich sage Ihnen auch: Der Eingriff in die Persönlichkeitsrechte von Arbeitslosen ist eine Schande für einen demokratischen Rechtsstaat. Das hat mit Freiheit nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es lebe die neue Parteispitze der Linken!)

Seit der deutschen Einheit sinken die Renten.

(Zurufe)

Präsident Dr. Norbert Lammert: Einen Augenblick, bitte. – Alle nachfolgenden Redner können alles zurückweisen, was gerade vorgetragen wird. Aber vorgetragen werden darf das; darauf lege ich allergrößten Wert.

(Beifall bei der LINKEN – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Zwischenrufe dürfen auch sein! Wir sind ja nicht in der DDR hier!)

– Ja, selbstverständlich. Jetzt hat die Frau Kollegin Lötzsch das Wort.

Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE):

Vielen Dank, Herr Präsident. Ich bin gespannt auf die weiteren Beiträge in dieser Debatte; das ist doch klar. Seit der deutschen Einheit sinken die Renten in Westdeutschland. Seit der deutschen Einheit sterben erstmals wieder Soldaten in Kriegen. Ist es da nicht nachvollziehbar, dass viele Westdeutsche die Mauer wieder haben wollen?

(Thomas Oppermann [SPD]: Wo leben Sie eigentlich? Wirres Zeug!)

Meine Damen und Herren, wie konnte das alles passieren? All das wäre in Zeiten der Systemkonkurrenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus unmöglich gewesen. Aber mit dem Wegfall dieses Wettbewerbs glauben viele, auf die soziale Marktwirtschaft verzichten zu können. Seit dem Fall der Mauer, so formulierte es der Dramatiker Heiner Müller, stecken wir bis zum Hals im Kapitalismus. Je schlechter die soziale Situation für viele Menschen in Ost und West ist, desto heftiger sind die Angriffe auf die längst untergegangene DDR. Aber darum geht es eigentlich gar nicht.

(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an den Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE] gewandt: Dietmar, ist das die Weiterentwicklung bei euch?)

Es geht darum, dass es eine Alternative zu dieser kapitalistischen Gesellschaft geben muss. Wir als Linke lassen uns nicht abschrecken. Wir kämpfen für eine Gesellschaft, die nicht profit- und angstgesteuert ist, die Menschen nicht ausgrenzt und demütigt. Wir setzen vielmehr auf eine Gesellschaft mit Solidarität und Gerechtigkeit.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: DDR 2.0, das ist das, was Sie wollen!)

Davon lassen wir uns von niemandem abhalten.
Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN – Hans-Joachim Hacker [SPD]: Die Rede wäre schon vor zehn Jahren schlecht gewesen!)