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Wir müssen die Zivilgesellschaft in der Breite stärken, und zwar dauerhaft.

Rede von Michael Leutert,

Rede zum Etat 2016 des Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Ministerin!

Für das nächste Jahr stehen dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend etwas mehr als 9 Milliarden Euro zur Verfügung. Das klingt sehr viel, aber man muss dazusagen: Nur 9 Prozent, also circa 800 Millionen Euro, sind für die Programmarbeit vorgesehen. 85 Prozent des Etats werden für gesetzliche Leistungen ausgegeben, allen voran für das Elterngeld mit 6 Milliarden Euro, Tendenz steigend.
Fakt ist - und das ist positiv zu bewerten -, dass wir in den Haushaltsverhandlungen die Programmarbeit stärken konnten. Insbesondere die Jugendhilfe wird 27 Millionen Euro mehr bekommen. Das Programm „Demokratie leben!“, das gegen Rechtsextremismus aufgelegt wurde, erhält noch einmal 10 Millionen Euro mehr, und auch die Mittel für die Mehrgenerationenhäuser - die möchte ich nicht vergessen - sind aufgestockt worden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Wir müssen uns allerdings fragen, ob die Mittel ausreichen angesichts der Aufgaben, vor denen wir stehen. Ich möchte das am Beispiel des Programms „Demokratie leben!“ skizzieren. Das Programm „Demokratie leben!“ hatte im Jahr 2014 30 Millionen Euro zur Verfügung, dieses Jahr 40 Millionen Euro, nächstes Jahr werden es 50 Millionen Euro.
(Ulrike Gottschalck (SPD): Gut!)


Das ist eine gute Tendenz. Man sollte sich aber einmal anschauen, wofür dieses Programm vorgesehen ist. Es soll sich gegen Rechtsextremismus, gegen Antisemitismus, gegen Islamismus, gegen Muslimfeindlichkeit, gegen Gewalt und Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen richten. Das alles soll mit vielen verschiedenen Maßnahmen umgesetzt werden, mit Demokratiezentren, lokalen Partnerschaften, Strukturförderung oder auch Modellprojekten. Was heißt das in der Praxis? Das bedeutet, dass ein Landkreis oder eine Kommune im Rahmen eines lokalen Aktionsplanes 60 000 Euro im Jahr bewilligt bekommt.


(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Das ist nicht viel!)


Ich frage mich: Was soll ein Landkreis in Sachsen, der zum Beispiel über 2 000 Quadratkilometer groß ist, 300 000 Einwohner und circa 60 Gemeinden hat - damit der Vergleich klar ist: das ist die Dimension des Saarlandes -, mit diesem Geld anfangen? Da in diesen 60 000 Euro auch Personalkosten enthalten sind, würden jeder Gemeinde nicht einmal 500 Euro pro Jahr für das Programm übrig bleiben.


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir alle wissen, was derzeit in unserem Land los ist. Die Situation spitzt sich zu. Das Bundesministerium des Innern warnt, der Verfassungsschutz warnt, und das Bundeskriminalamt warnt. Wir haben allein in diesem Jahr bis jetzt 600 Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte und Flüchtlinge zu verzeichnen - das ist dreimal so viel wie letztes Jahr -, und es gab rund 223 Verletzte. Leider ist Sachsen auch hier wieder das Negativbeispiel. Dort finden besonders viele fremdenfeindliche Demonstrationen statt; Pegida ist die bekannteste. Dort erleben wir besonders heftige Angriffe; Heidenau und Freital stehen exemplarisch dafür. Die Volksverhetzung nimmt zu. Die Angegriffenen sind nicht nur Flüchtlinge oder ihre Helfer, es sind auch Politikerinnen und Politiker. Es werden Autos angezündet und Büros verwüstet. Das betrifft im Übrigen nicht mehr nur Politiker der Linken oder der Grünen, sondern jetzt auch Politiker der CDU und der FDP: Das prominenteste Opfer ist der sächsische Justizminister, dessen Wohnung vor ein paar Tagen angegriffen wurde. Er war mit seinen Kindern zu Hause; ein Kind ist noch nicht einmal ein Jahr alt. Vor der Wohnung des Dresdner Oberbürgermeisters, FDP, hat sich mehrere Stunden ein Mob versammelt und „Volksverräter“ geschrien. - Das, was zwei Spitzenpolitiker in Sachsen erlebt haben, erleben viele Ehrenamtliche in Sachsen allerdings seit vielen Jahren.


Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Die NPD hat in Sachsen bei der Landtagswahl 2004 9,2 Prozent bekommen, die SPD damals 9,8 Prozent. Das zeigt doch, wie die Gesellschaft positioniert ist. Auch der NSU war in Sachsen zu Hause. Pegida hatte ich schon erwähnt. - Das alles zusammen schafft ein gesellschaftliches Klima, das es der Zivilgesellschaft sehr, sehr schwer macht, dagegenzuhalten. Das bedroht unsere Gesellschaft im Kern, und zwar ernsthaft. Das ist kein Spaß mehr. Aus diesem Grund sage ich: Wir müssen die Zivilgesellschaft in der Breite stärken, und zwar dauerhaft.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie der Abg. Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))


Es gibt so viele kleine Vereine, die sich mit ganz normalen Angeboten in der täglichen Stadtteilarbeit und der Jugendarbeit an die Bevölkerung richten. Da zu unserer Bevölkerung jetzt auch Flüchtlinge gehören, richten sich diese Angebote auch an Flüchtlinge, die zum Teil ihrerseits in den Vereinen mithelfen. Wenn die Projekte dieser Vereine bedroht werden, wenn die Vereine nicht einmal vom Staat ausreichend Unterstützung bekommen, dann werden sie diese Angebote einstellen. Jedes Mal, wenn das passiert, bricht uns ein Stück Zivilgesellschaft weg. Das müssen wir verhindern. Dafür brauchen wir dringend mehr Geld.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD - Sönke Rix (SPD): Das haben wir geschafft! - Ulrike Gottschalck (SPD): 10 Millionen mehr! Wieder einmal 10 Millionen!)


Wenn wir uns hier im Bundestag einig sind, dass eine Aufgabe wichtig ist - das gab es schon mehrmals -, dann können wir dafür auch Geld mobilisieren. Ich möchte ein Beispiel nennen, ohne irgendetwas gegeneinander ausspielen zu wollen: Wir sind uns im Bundestag einig, dass wir das Elterngeld wollen. Es ist in diesem Etat enthalten und kostet uns 6 Milliarden Euro im Jahr. Das ist es uns wert, weil es uns wichtig ist, dass mehr Kinder geboren werden und diese in gesicherten Verhältnissen aufwachsen können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Ulle Schauws (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))


Aber was nützt uns das, wenn unsere Kinder, weil wir nur 50 Millionen Euro aufwenden, um gegen Rechtsextremismus vorzugehen, in einem durch Fremdenfeinde und Rassisten vergifteten gesellschaftlichen Klima aufwachsen? Das dürfen wir nicht zulassen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Sönke Rix (SPD))
Weil ich den Kollegen Spahn hier gerade sehe, möchte ich noch eines sagen. In der Buchhandlung habe ich Ihr neues Buch gesehen. Ich darf daraus kurz zitieren. Sie schreiben:
Obgleich Zigtausende Menschen jeden Tag haupt- und ehrenamtlich fast Übermenschliches leisten, um der Lage Herr zu werden, erleben wir doch in vielen Bereichen eine Art Staatsversagen.
Ich möchte Ihnen sagen: Helfen Sie bitte mit - Sie sind Staatssekretär des Finanzministers Schäuble -, dieses Staatsversagen zu beenden, und geben Sie den Ehrenamtlichen das Geld, das sie benötigen.
(Beifall bei der LINKEN)