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Wir haben in Abgründe geschaut

Rede von Petra Pau,

 

  1. Zehn Morde, mindestens zwei Anschläge und zahlreiche bewaffnete Überfälle gehen auf das Konto der Nazi-Bande namens „Nationalsozialistischer Untergrund, kurz: NSU.

    Wie andere auch war ich an etlichen Tatorten, um mir ein Bild zu machen. Wir wollten uns nicht allein auf Akten verlassen.

    So war ich auch in der Kölner Keupstraße. 2004 hatten Böhnhardt und Mundlos dort eine Nagelbombe gezündet. Zwei Dutzend Anwohnerinnen und Anwohner wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt.

    Mein Begleiter öffnete mir etliche Türen. Ich sprach mit einigen Betroffenen des NSU-Anschlages. Zum Beispiel mit dem Inhaber des Geschäftes, vor dem die Bombe explodierte.

    Er sagte mir, dass er noch im Herbst 2011, also sieben Jahre nach dem Anschlag, von der Polizei bedrängt wurde. Er solle endlich aussagen, was er mit alledem zutun hatte.

    Schließlich brach es aus ihm heraus:

    „Ich weiß, Frau Pau, auch die Polizei kann irren. Aber sie haben vergessen, dass wir Menschen sind. Das kann ich nicht verwinden.“
    Mein Begleiter lud mich hernach noch zu einem Glas Tee ein.
    Zum Abschied fragte er mich fast verzweifelt:

    „Ich lebe jetzt seit rund 40 Jahren hier. Ich bin Deutscher, meine Kinder sind Deutsche, meine Enkel auch. Wo sollen wir denn hin?“

    Ich konnte ihm nur die Hand drücken.

    Diese Geschichte ging mir immer wieder durch den Kopf.
    Allemal, wenn Zeugen im Ausschuss beteuerten,
    man hätte alles richtig gemacht und sei doch ohne Schuld. 

    Ich habe mich jeweils für sie geschämt.


  2. Der Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses ist öffentlich.
    Es ist ein gemeinsames Dokument aller Fraktionen,
    von der CDU/CSU bis zur Fraktion DIE LINKE.

    Viele Kommentatoren haben den Anspruch und die Kultur im Ausschuss gewürdigt. Einer meinte dagegen, dass sei kein Grund zum Lob.
    Zeige es doch nur, wie es ansonsten im Bundestag zu gehe.

    Auch darüber lohnt es sich nachzudenken, finde ich.

    Gleichwohl danke ich allen Mitgliedern des Untersuchungsausschusses, ebenso allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

    Die Zusammenarbeit war eine Mut machende Erfahrung.

    Und sie war bitternötig.

    Wir sahen uns auch in der Schuld der Opfer und ihrer Angehörigen.
    Wir konnten nichts wiedergutmachen.
     
    Umso mehr galt unsere Botschaft Artikel 1 Grundgesetz:
    Die Würde des Menschen ist unantastbar, aller Menschen.


  3. Der Abschlussbericht enthält knapp vier Dutzend Vorschläge, was als Konsequenz aus dem NSU-Desaster dringend zu ändern sei.

    Hinzu kommen Zusatz-Voten der Fraktionen. Sie markieren Differenzen, durchaus gravierende. Ich skizziere für die LINKE drei.

    Erstens:
    Das Staatsversagen im NSU-Komplex hatte zwei wesentliche Ursachen.

    Zitat aus unserem Votum:
    „Die Verharmlosung und Vertuschung der Gefahren des Rechtsextremismus durch staatliche Stellen einerseits und den institutionellen Rassismus andererseits.“

    Die rechtsextreme Gefahr wurde bis 2011 verlässlich unterschätzt und verharmlost. Eine rechtsterroristische Gefahr gäbe es nicht, hieß es in nahezu allen Lageeinschätzungen der Sicherheitsbehörden.

    „Wir hätten es besser wissen müssen“, kommentierte der damalige Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz Heinz Fromm danach. Zu spät.

    Das Wort „Rassismus“ wiederum wird offiziell weiterhin gemieden.
    Noch mehr die Einschätzung, es gäbe „institutionellen Rassismus“.

    Ich bleibe dabei: Die NSU-Nazi-Mordserie war rassistisch motiviert und die Ermittlungen trugen rassistische Züge.

    Damit sage ich nicht, die Ermittler seien Rassisten. Wohl aber, dass in vielen Behörden ein Geist herrscht, der Rassismus bedient.

    Das beginnt bei Gesetzen, die Asylsuchende und Zuwanderer menschlich degradieren. Und das mündet in einem Generalverdacht gegen vermeintlich Undeutsche, in der Politik und in der Gesellschaft.

    Beispiele dafür finden sich in den Untersuchungsakten en masse.

    Deshalb haben die Türkische Gemeinde, der Zentralrat der Sinti und Roma und andere recht: Wer das NSU-Desaster ernst nimmt, muss endlich das Thema Rassismus auf die Tagesordnung setzen.

    Zweitens:
    Im Untersuchungsausschuss waren wir uns einig, dass die Ämter für Verfassungsschutz im Zentrum des Versagens agierten.

    Gleichwohl ziehen wir unterschiedliche Schlüsse.
    Im Votum der LINKEN heißt es:

    „Der nachrichtendienstlich arbeitende Verfassungsschutz war Herz und Motor des sicherheitspolitischen Debakels.“

    Verknappt gesagt: Der Verfassungsschutz hat die Ermittlungen gegen das NSU-Trio behindert. Und er hat zugleich durch seine V-Leute-Kumpanei mit Nazis Verfassungsfeinde gestärkt. Beides systematisch.

    Deshalb bleibt DIE LINKE dabei: Die unsägliche V-Leute-Praxis aller Sicherheitsbehörden ist sofort einzustellen. Die Ämter für Verfassungsschutz sind als Geheimdienste aufzulösen.

    Sie sind als solche weder kontrollierbar, noch reformierbar.

    Drittens:
    Auch die Prävention gegen Rechtsextremismus und Rassismus war Thema im Ausschuss, insbesondere bei Expertenanhörungen.

    Ihre Urteile über das geltende System waren vernichtend.
    Gesellschaftliche Initiativen werden ungenügend gefördert,
    stattdessen werden sie häufig kriminalisiert,

    DIE LINKE teilt diese Kritik. Wir schlagen ein neues Modell vor.
    Es korrespondiert mit unserer zivilgesellschaftlichen Alternative zu den  Ämtern für Verfassungsschutz als Geheimdienste.

    Wir plädieren

    a) für eine „Koordinierungsstelle zur Dokumentation gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ und

    b) für eine „Bundesstiftung zur Beobachtung, Erforschung und Aufklärung gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“.

    Beide sollen parteifern und wissenschaftsnah sein.

    Die Koordinierungsstelle ist für die Analyse zuständig.
    Der Stiftung obliegt auch die Betreuung gesellschaftlicher Initiativen.

    Dem Rechtsextremismus ist mit kurzem Atem nicht beizukommen.
    Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit wiederum beschränken sich nicht auf den rechten Rand.

    Die aktuelle Förderung für gesellschaftliche Initiativen dagegen ist kurzatmig und beschränkt. Wir brauchen also einen neuen Ansatz.
  4. Zwei Abschlussgedanken:

    Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte auf der Trauerfeier im Februar 2012 den Angehörigen und den überlebenden Opfern der NSU-Mord- und Anschlagsserie vollständige Aufklärung versprochen.

    Davon kann keine Rede sein.

    Die Arbeit des Untersuchungsausschuss wurde von den Regierungen und Behörden auf Bundes- und Landesebene massiv erschwert und behindert.

    Übrigens egal, welche Parteiflaggen die jeweiligen Regierungen hissen.

    Sie alle lassen die Bundeskanzlerin im Regen stehen und, was noch schlimmer ist, die Opfer und Hinterbliebenen. So, als sei nichts gewesen!

    Der zweite Gedanke:

    Der Ausschuss hat wider aller Blockaden vieles ermittelt. Wir haben in staatliche Abgründe geschaut und politisches Versagen aufgedeckt.

    All das ist umfangreich dokumentiert, mit dringenden Empfehlungen.
    Deshalb schließe ich mit einem Lessing-Zitat:

    „Wer wird nicht einen Klopstock loben?
    Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.
    Wir wollen weniger erhoben
    und fleißiger gelesen sein!“

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