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»Wir brauchen eine Fraktion für die Bevölkerung«

Rede von Gregor Gysi,

Gregor Gysi in der Aussprache über die Regierungserklärung der Kanzlerin zum EU-Sondergipfel und Euro-Rettungsfonds EFSF

Herr Präsident! Meine Damen und Herren!

Wir verdanken es der Opposition, dass es überhaupt zur Abstimmung über den Hebel im Bundestag kommt. Sie wollten das in den Haushaltsausschuss verlegen. Ich sage Ihnen: Es ist immer Ausdruck der Arroganz der Macht, wenn man anfängt, das Parlament zu vernachlässigen. Das sollten Sie sich nicht leisten.

(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Da wissen Sie ja sehr gut Bescheid! Das kennen Sie aus Ihrer Vergangenheit nur zu gut!)

Ich sage ferner, dass der Bundestag vor der letzten Abstimmung am 29. September 2011 getäuscht wurde; denn damals haben gerade Sie, Herr Brüderle, den Hebel ausgeschlossen. Ich werde Sie einmal zitieren. Am 29. September, also am Tag der Abstimmung, haben Sie gegenüber dem Deutschlandfunk gesagt: „Meines Erachtens wird es ihn“   gemeint war der Hebel   „nicht geben.“

(Rainer Brüderle (FDP): Gibt es ja auch nicht, wenn der Hebel verstanden wird!)

Der Vorsitzende der CSU, Herr Seehofer, hat einen Tag nach der Abstimmung Folgendes gesagt:
Weitere Aufstockungen oder größere Risiken aus den übernommenen Garantien   beispielsweise über finanztechnische „Hebel“   lehnen wir jedoch ab.

Was machen die Abgeordneten der CSU heute? Sie werden zustimmen. Sie widerlegen die Aussagen ihrer eigenen Politiker innerhalb weniger Wochen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Am 1. September hat der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Kampeter unserer Abgeordneten Sahra Wagenknecht schriftlich mitgeteilt, dass eine Ausweitung der Risiken nicht erfolgen wird. Auch das ist nicht wahr.

Was bedeutet nun der Hebel? Das müssen wir der Bevölkerung einmal sagen. Am 29. September habe ich hier davon gesprochen, dass ein Schuldenschnitt kommen wird. Sie alle haben dazu nichts gesagt. Es ist bestritten worden, dass ein Schuldenschnitt kommen wird. Ich habe gesagt: Anders geht es überhaupt nicht mehr mit Griechenland, anders ist es nicht einmal im Ansatz lösbar.

Interessant ist: Jetzt reden alle vom Schuldenschnitt. Früher, Herr Kauder, brauchten Sie mehrere Jahre, um mir zu folgen. Jetzt dauert es nur noch drei Wochen. Vielleicht sollten wir darüber einmal nachdenken.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Jetzt wollen Sie den Hebel einführen. Was heißt das? Die ersten 20 Prozent soll der europäische Rettungsschirm, bezahlt von den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern der Euro-Zone und damit vornehmlich von Deutschland, übernehmen - die ersten 20 Prozent, das ist wichtig zu wissen. Angenommen, es würde nur ein Schuldenschnitt von 20 Prozent beschlossen werden, dann würden die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler alles allein bezahlen. Die Banken müssten nicht einen halben Euro dazulegen. Das ist Ihre Entscheidung.

Nun sagen Sie aber: Es sollen nicht 20 Prozent sein, sondern es soll mehr werden; dazu komme ich noch. Aber was heißt denn das? Während es bisher ein vages Haftungsrisiko war   Sie haben immer gesagt: „Ob der europäische Rettungsschirm überhaupt in Anspruch genommen wird, das wissen wir noch gar nicht“  , machen Sie daraus heute eine zwangsläufige, direkte Zahlung; denn es wird den Schuldenschnitt geben. Das heißt, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die ersten 20 Prozent davon ganz alleine und direkt bezahlen. Das müssen Sie den Bürgerinnen und Bürgern einmal so ehrlich erklären.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun wird aber von einem Schuldenschnitt von 50 bis 60 Prozent geredet. Auch dazu muss man etwas erklären: Bei einem Schuldenschnitt von 50 Prozent oder 60 Prozent geht es nicht nur um den Betrag, den man gezahlt hat, als man die Anleihen kaufte, sondern für die Banken geht es immer um alles, also auch um die Zinsen.

Nehmen wir das Beispiel, eine Bank hätte für 1 Milliarde Euro griechische Anleihen gekauft. Je nach Laufzeit und Zinshöhe hat sie dann am Ende einen Anspruch auf 2 Milliarden Euro. Wenn eine Kürzung um 50 Prozent erfolgt, bekommt diese Bank immer noch 1 Milliarde Euro. Das heißt, sie verliert, nachdem sie schon jahrelang Zinsen kassiert hat, nur weitere Zinsen. Von dem eigentlichen Betrag büßt sie überhaupt nichts ein. Auch das müssen Sie einmal der Öffentlichkeit so deutlich sagen.

(Beifall bei der LINKEN - Norbert Barthle (CDU/CSU): Hat sie Geld ausgegeben oder nicht?)

Nun ist die Frage: Was machen wir mit den Zinsverlusten? Völlig richtig. Dabei stellt sich auch die Frage, wer die Zinsverluste bezahlt. Da gibt es theoretisch drei Varianten, meine vielen Herren und wenigen Damen von der FDP:

Die erste Variante wäre, zu sagen: Tja, das ist eben das Pech der Banken. Dann haben sie eben einmal einen Zinsverlust. - An so etwas denken Sie noch nicht einmal nachts oder heimlich. Bei dem Gedanken, dass die Deutsche Bank auch nur einen halben Euro verlieren könnte, bekommen Sie ja das Gruseln. Das käme für Sie überhaupt nicht infrage.

Eine zweite Variante wäre, dass die Staaten die Zinsverluste ihrer Banken direkt bezahlen. Dann müssten Frankreich und Deutschland für ihre Banken zahlen. Frankreich müsste aber sehr viel mehr zahlen als Deutschland. Deshalb gefällt dieser Weg den Franzosen nicht.
Daher schlagen diese vor   das wäre die dritte Variante  : Entweder die EZB oder der Rettungsschirm sollte diese Zahlungen übernehmen. Das würde bedeuten, dass die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler die Verluste der französischen Banken mitbezahlen.
Darum geht der Streit. Warum sagen Sie das nicht einfach so offen? Dann wissen die Bürgerinnen und Bürger wenigstens, worum eigentlich diesbezüglich gestritten wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie haben ein Chaos verursacht, das eine Wirrnis organisiert, die alle überfordert. Ich behaupte, auch das Parlament. Ich behaupte, auch die Medien

(Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Vor allem die Medien!)

und erst recht die Bevölkerung. Sie sagen jede Woche etwas Neues zu dieser Krise. Sie lehnen einen Vorschlag in der ersten Woche ab, um ihn in der zweiten Woche zu übernehmen. Bringen Sie doch einmal einen Zug von Klarheit in diese Sache hinein! Erst soll ein EU-Gipfel stattfinden und dort etwas beschlossen werden. Dann teilen Sie uns mit: Nein, es wird doch nichts beschlossen. Er wird erst am Mittwoch tagen. - Dann soll die Kanzlerin am Freitag reden. Dann wird gesagt: Nein, sie redet nicht. Sie redet erst am Mittwoch. - Mein Gott! Auch das Recht der Bundesregierung, die Bevölkerung in Verwirrung zu bringen, hat Grenzen, und die müssen irgendwann einmal gesetzt werden.

(Beifall bei der LINKEN - Volker Kauder (CDU/CSU): Von Ihnen, ja?)

Kommen wir wieder zur FDP. Jetzt machen die USA Druck.

(Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU): Machen Sie doch mal einen eigenen Vorschlag!)

Die USA sagen, wir sollten das Eigenkapital unserer Banken erhöhen. Es sollte, wenn ich richtig informiert bin, bei 9 Prozent der Bilanzsumme liegen. Was bedeutet es eigentlich, wenn eine Bank zu wenig Eigenkapital hat? Dann ist sie überschuldet. Es stellt sich daher die Frage: Wie kommen sie zu diesen 9 Prozent? Da gibt es wieder verschiedene Varianten: Sollen das die Staaten selbst bezahlen? Bezahlt das Europa? Auch da haben die Franzosen wieder andere Vorstellungen als wir. Für uns ist ganz klar - da müssen Sie mir keinen Vogel zeigen -: Wir fordern zwar 9 Prozent der Bilanzsumme als Eigenkapital; dies leisten aber weder die Commerzbank noch die Landesbanken. Das heißt, sagen Sie doch den Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern heute, dass sie die Differenz bezahlen müssen, und zwar direkt an die Banken. Das ist das, was Sie planen und was Sie nie ehrlich zugeben.

Ich sage Ihnen noch etwas dazu, dass die Banken überschuldet sind. Die Banken bieten doch Dispokredite an. Die Commerzbank nimmt bei einem Dispokredit Zinsen in Höhe von 13,24 Prozent. Das ist eine Unverschämtheit. Die Deutsche Bank nimmt bei einem Dispokredit 13,25 Prozent; auch das ist eine Unverschämtheit. Das heißt, wenn sich eine Bürgerin oder ein Bürger bei einer dieser beiden Banken überschuldet, dann muss sie bzw. er für diesen Betrag so hohe Zinsen bezahlen. Nun wäre doch das Mindeste, meine Damen und Herren von der FDP und von der Union, dass Sie sagen: Wenn wir einer Bank Geld geben, dann verlangen wir die Zinsen, die die Bank bei einem Dispokredit fordert; denn sie hat sich ja auch überschuldet.

(Beifall bei der LINKEN)

Das wäre das Mindeste. Aber Sie kommen mit lächerlich kleinen Zinsen. Das interessiert Sie nicht.

Zurück zum Eigenkapital der Banken. Wir können das in Deutschland vielleicht noch irgendwie meistern, Frankreich vielleicht auch noch, Griechenland aber bestimmt nicht, Spanien und Italien auch nicht. Und was passiert dann? Dann - so sagt es auch die Bundeskanzlerin - muss es der europäische Rettungsschirm bezahlen. Wer ist der europäische Rettungsschirm? Es sind wieder - überwiegend, nicht nur - die deutschen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Da heißt, Sie verpulvern hier Milliarden - das gilt auch für diese Abstimmung -, ohne es den Bürgerinnen und Bürgern ehrlich zu sagen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wie war das denn bei Griechenland? Erst hieß es: 110 Milliarden Euro reichen; dann ist Griechenland gerettet. Das war im Mai 2010. Im Juli 2011 haben Sie gesagt: Na ja, wir brauchen doch noch weitere 109 Milliarden Euro. Jetzt sagen Sie: Ach, wir haben uns verrechnet, es sind doch 252 Milliarden Euro. - Man kann gespannt sein, was wir im Dezember oder Januar hören und wie sich diese Zahlen entsprechend weiterentwickeln. Es ist übrigens ein absurder Zahlenwirrwar, den Sie hier liefern.

Warum ist Griechenland unter anderem in diese schwierige Situation gekommen? Unter anderem durch den deutschen Exportüberschuss, das möchte ich einmal klipp und klar sagen. Der ist möglich geworden durch Lohndumping in Deutschland. Beides war falsch, beides ist falsch, und beides bleibt falsch.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Rezepte für das Griechenland-Problem sind falsch.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Reden Sie endlich über Ihr Programm! Sozialismus und Kommunismus!)

Ein griechischer Linker hat bei uns auf dem Parteitag gesprochen und erzählt, wie es in Griechenland aussieht: massenhafte Entlassungen, Lohnsenkungen, Rentensenkungen, Streichung von Investitionen, Verschleuderung des öffentlichen Eigentums.

Ich nenne Ihnen nur zwei Beispiele aus Griechenland: 27 000 kleine Unternehmen   für die Sie angeblich durchs Feuer gehen, liebe FDP  , mussten schon die Insolvenz anmelden. Eine Lehrerin erhielt im Juni 2011 bei einer Neueinstellung einen monatlichen Bruttolohn von 1 020 Euro. Ab Dezember wird sie einen monatlichen Bruttolohn von 575 Euro erhalten. Soll sie verhungern? Wie wollen Sie das Ganze überhaupt bewerkstelligen?

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von den LINKEN: Pfui!)

Sie stehen vor dem Scherbenhaufen Ihrer Auflagenpolitik. Das geht so nicht weiter. Wir brauchen in Griechenland, in Italien und in Deutschland nicht Abbau, sondern Aufbau. Wenn Sie Investitionen streichen, streichen Sie auch die Steuern. Wenn Sie aber die Steuern streichen, versenken Sie das ganze Geld, weil dann keines zurückfließen kann.

(Dr. Heinrich L. Kolb (FDP): Wenn man Sie so reden hört, weiß man, warum die DDR kaputtgegangen ist!)

  Wissen Sie, erst einmal ist es überhaupt gut, wenn Sie mir zuhören, weil Sie dabei dazulernen können.

(Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich komme jetzt aber zur SPD und zu den Grünen. Sie legen heute einen gemeinsamen Entschließungsantrag mit Union und FDP vor.

(Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Hat lange gedauert!)

Sie tragen fast alles mit, was Union und FDP diesbezüglich geplant haben. Es bringt nur nichts, Herr Steinmeier, wenn Sie hier den Oppositionellen spielen, in der Sache aber vollständig mit Union und FDP übereinstimmen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen, Herr Bundestagspräsident: Die Reihenfolge der Redner war falsch; denn nach der Bundeskanzlerin soll eigentlich ein Oppositioneller sprechen. In diesem Falle hätte ich das dann sein müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie bringen das nicht, Herr Steinmeier. Ich will Ihnen auch sagen, was an Ihrer Argumentation falsch ist; das ist mir wichtig. Sie unterstützen doch den „Hebel“. In dem Zusammenhang sagen Sie, dass er zu einer Veränderung der Risiken führt. Warum sind Sie nicht ehrlich? Warum sagen Sie nicht, dass aus einem Risiko direkt die Zahlung durch die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler wird? Das ist nämlich die Veränderung, die stattfindet.

(Hans-Michael Goldmann (FDP): Sie haben keine Ahnung!)

Darüber hinaus verkünden Sie stolz: Die Europäische Zentralbank soll keine Staatsanleihen mehr kaufen. Schaut man sich den Entschließungsantrag aber genauer an, dann stellt man fest: Die EZB soll keine Anleihen mehr von den Staaten kaufen, aber von den privaten Banken soll sie weiterhin Anleihen kaufen. Damit sichern Sie wiederum die Banken. Ich sage Ihnen: Ihre vier Fraktionen sind die Fraktionen der Banken. Wir brauchen endlich  Fraktionen für die Bevölkerung.

(Beifall bei der LINKEN)

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege Gysi!

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Ich komme zum Schluss.   Eine Garantieerklärung ist im Entschließungsantrag übrigens auch nicht enthalten. Wir haben Ihnen klare Modelle genannt. Um zwei Dinge werden Sie nicht herumkommen: Wir brauchen erstens in Europa und in Deutschland endlich eine Vermögensteuer. Ich bin es leid, dass die Hartz-IV-Empfängerin, der Stahlarbeiter und die Lehrerin die Folgen der Krise bezahlen. Das müssen andere bezahlen, nämlich die, die an der Krise verdient haben.

(Beifall bei der LINKEN)

Zweitens brauchen wir endlich öffentlich-rechtlich organisierte Banken im Sinne des Art.14 Abs. 2 und Art. 15 Grundgesetz,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Punkt! Punkt! Punkt!)

nicht Ihre großen Privatbanken, die die Staaten in Abhängigkeiten treiben.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Die Zeit ist um! Punkt! Punkt! Punkt!)

Wir brauchen die Unabhängigkeit der Staaten von den Privatbanken,

(Volker Kauder (CDU/CSU): Ja, ja, ja!)

sonst führen die Sie noch länger durchs Land, und zwar Sie alle vier zusammen.

(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)