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Von Frankreich lernen: Saisonarbeit mit sozialer Perspektive verbinden

Rede von Kirsten Tackmann,

Rede zum Antrag der FDP-Fraktion „Eckpunktevereinbarung zum Einsatz von Erntehelfern in der Landwirtschaft grundlegend überarbeiten“, DS 16/2685 und zum Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen „Qualifizierung statt Quoten - Vermittlungsagenturen für grüne Berufe“, DS 16/ am 20.10.2006

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Über das Thema Saisonarbeit müssen wir sehr differenziert und gleichzeitig grundsätzlich diskutieren.
Es geht um eine existenzielle Frage im ländlichen Raum, nämlich Arbeitsplätze. Ich nenne hier einmal die Zahl 400 000. Das ist nach Schätzungen der IG BAU die Anzahl der Arbeitsplätze, die im ländlichen Raum unterdessen nur noch zeitweise zur Verfügung stehen. Diese Arbeitsplätze sind aus verschiedenen Gründen einige sind schon genannt worden für den heimischen Arbeitsmarkt wenig attraktiv. Dafür haben sie zu einer europaweiten Wanderarbeiterbewegung beigetragen, und zwar mit allen gesellschaftlichen Konsequenzen, über die wir einmal reden müssten.
Es gibt noch mehr Zeitarbeitsplätze im ländlichen Raum; es gibt sie im Tourismus, in den Hotels und in den Restaurants. Was bedeutet Saisonarbeit? Saisonarbeit stellt keine Lebensperspektive dar; denn sie bietet erstens keine soziale Absicherung, zweitens keine Alterssicherung und ist drittens auch für den Moment oft nicht Existenz sichernd. Sie ist prekär, wie man heute sagt. Trotzdem teile ich das Anliegen, dass diese 400 000 Arbeitsplätze wieder dem heimischen Arbeitsmarkt zugänglich gemacht werden müssen. Wenn das das Anliegen der Eckpunkteregelung ist, dann unterstützte ich sie insoweit. Aber eine Quotenregelung allein ist keine Lösung.
Die Vermittlungsprobleme allerdings nur mit Faulheit oder fehlender Leistungsfähigkeit einheimischer Arbeitskräfte zu erklären, ist nahezu absurd. Denn schauen wir uns doch einmal die Erntehelferjobs an: 3,50 Euro im Osten, 5 bis 6 Euro im Westen sind unter bundesdeutschen Lebensverhältnissen Armutslöhne. Sie sind auch angesichts der Schwere der Arbeit nicht leistungsgerecht. Bürokratische Abläufe bieten zudem wenig Anreiz für so kurzzeitige Arbeitsaufnahmen. Unterbringung, Arbeitsbedingungen und Anfahrt sind gelegentlich problematisch. Vielleicht sollten wir zur Erlangung von Selbsterfahrung einmal eine Aktion „MdBs in die Ernte“ machen; dann könnten wir über dieses Thema vielleicht konkreter sprechen.
(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) und des Abg. Peter Hettlich (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))
Trotz der beschriebenen Bedingungen gibt es auch gute Erfahrungen mit der Vermittlung von Erntehelfern. Ich kenne zum Beispiel Brandenburger Betriebe, die nicht nur 10 Prozent, sondern 100 Prozent einheimische Erntehelfer beschäftigen, auch heutzutage. Von guten Erfahrungen hat mir im August auch die Fachagentur für Landwirtschaft bei der BA in Eberswalde berichtet. Dort wurden 118 Saisonarbeitskräfte regional vermittelt und 128 nach Hessen. 90 Prozent blieben zwei Monate, 10 Prozent sogar vier Monate. Außerdem kenne ich das Projekt „Agrotime“ in Potsdam, wo bis zum August 2006 220 Erntehelfer vermittelt wurden. Dort lag die Abbrecherquote unter 10 Prozent.
Es liegt also wohl auch an der Durchführung und an der Betreuung der Erntehelfer und der Betriebe,
(Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD): Herr Geisen, nicht schwatzen, sondern zuhören! - Ulrich Kelber (SPD): Das ist doch Ihre Debatte, Herr Geisen!)
ob die Eckpunkteregelung zu einem Desaster geführt hat oder nicht.
Aber seien wir einmal ehrlich: Die fehlende Aussicht auf reguläre Beschäftigung zwingt Menschen in Saisonarbeit, obwohl sie keine soziale Perspektive bietet. Das ist ein Grund dafür, dass die Erfahrungen in Ost und West so unterschiedlich sind. Aber genau das ist die wirkliche Herausforderung: Wie können wir Saisonarbeit mit einer sozialen Perspektive verbinden? Wir sollten im Ausschuss einmal über französische Arbeitgeberzusammenschlüsse diskutieren. Diese teilen sich nicht nur die Maschinen das ist ja auch bei uns üblich , sondern sie beschäftigen auch Personal gemeinsam, und zwar ganzjährig und sozial abgesichert, trotz Saisonarbeit.
(Beifall bei der LINKEN)
Das ist zum Vorteil für beide Seiten.
Die vielfältigen Tätigkeiten in den verschiedenen Betrieben sind eine permanente Weiterbildung: Im Frühjahr geht es in die Gärtnerei, im Sommer aufs Feld, im Herbst in die Baumschule und im Winter in die Holzernte oder ins Sägewerk. Das sind nur einige Beispiele. Wenn es einmal gar nichts zu tun gibt, werden Weiterbildungen organisiert.
Im Jahr 2004 gab es in Frankreich 4 100 solcher Arbeitgeberzusammenschlüsse allein in der Landwirtschaft.
Vizepräsidentin Petra Pau:
Kollegin Tackmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Geisen?
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Ja, selbstverständlich.
(Ulrich Kelber (SPD): Die Hälfte der anwesenden FDP-Fraktion stellt Zwischenfragen!)
Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Frau Tackmann, wie stellen Sie sich bei der hohen Technisierung und Automatisierung auch in der Landwirtschaft und eher einer Zunahme dieser Technisierung konkret vor, eine größere Anzahl von Arbeitskräften in Einsatz zu bringen? Wollen Sie bestimmte Tätigkeiten wieder auf eine andere Arbeitsebene bringen? Können Sie ein Beispiel nennen?
(Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Eben war das doch noch die Handarbeit, die keine Zukunft hat!)
- Es gäbe zum Beispiel die Handarbeit. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Sie 400 000 Arbeitnehmer wieder in die Landwirtschaft bringen wollen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Mir geht es darum, dass man mit einer Verstetigung der Arbeitsverhältnisse Menschen eher motivieren kann, eine solche Arbeit aufzunehmen, als es vielleicht der Fall ist, wenn sie die Aussicht haben, nur zwei Monate oder vielleicht sogar nur einen Monat Spargel zu stechen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das, was in Frankreich möglich ist, hier nicht möglich sein soll. Frankreich hat keine weniger technisierte Landwirtschaft; dort gibt es genau die gleichen Strukturprobleme. Ich denke, wenn das in Frankreich möglich ist, müsste das auch in Deutschland möglich sein. Es liegt eher an den gesetzlichen Bedingungen als an fehlendem Willen und fehlenden Möglichkeiten, wenn das hier nicht funktioniert.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsidentin Petra Pau:
Eine weitere Zwischenfrage lasse ich nicht zu, Herr Geisen. Sie haben der Kollegin Tackmann schon geholfen, dass ich ihre Rede nicht ab- oder unterbrechen musste. Aber nun muss sie zu ihrem Schlusssatz kommen.
Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE):
Ich komme zu meinem Schlusssatz. Jedenfalls haben die Arbeitgeber in den Arbeitgeberzusammenschlüssen offensichtlich auch große Vorteile; denn sie haben Personal, das sich dem Betrieb verbunden fühlt, auf das sie jederzeit zugreifen können und das für die Arbeiten qualifiziert ist. Wir haben seit 2004 mit einem solchen Projekt im Spreewald Erfahrungen sammeln können. Ich würde gerne mit Ihnen im Ausschuss darüber diskutieren und freue mich auf die Diskussion.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)