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Überlange Gerichtsverfahren, die Zweite

Rede von Jens Petermann,

130. Sitzung des Deutschen Bundestages, 29. September 2011
TOP 13: Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren
Drucksache 17/3802
Fraktion DIE LINKE Jens Petermann - Rede zu Prokoll

Sehr geehrte(r) Herr/Frau Präsident(in), meine sehr geehrten Damen und Herren,
was lange währt, sollte besonders gut werden. So hatte ich meinen Beitrag in der ersten Beratung dieses Gesetzentwurfes im Januar begonnen. Doch weder eine öffentliche Anhörung, noch Änderungs- und Entschließungsanträge der Regierungskoalition konnten diesem Gesetzentwurf die nötige fachliche und praktische Brillanz verleihen. Auch meine Fraktion hat durch die Einbringung eines Änderungsantrages in den Rechtsausschuss versucht, sich konstruktiv zu beteiligen. Leider wurde unser Antrag abgelehnt und leider nehmen Sie unsere Argumente immer erst dann ernst, wenn sie diese ein paar Jahre später vom Bundesverfassungsgericht oder vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hören.
Mit Ihrem Entwurf sind Sie wieder einmal im Verzug, ein fast schon gewohntes Phänomen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte die Bundesrepublik Deutschland am 2. September 2010 verpflichtet, binnen eines Jahres einen wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelf oder eine Kombination solcher Rechtsbehelfe einzuführen. Jede Anwaltskanzlei, die so nachlässig gesetzte Fristen missachtet, hätte schon längst Insolvenz anmelden müssen. Anscheinend ist es sinnvoll, einen Rechtsbehelf gegen überlange Gesetzgebungsverfahren oder eine Untätigkeitsrüge gegen die Bundesregierung einzuführen!
Der EGMR stellt in seiner Entscheidung fest, dass es sich bei den überlangen Gerichtsverfahren in Deutschland um ein strukturelles Problem handelt. Das in dem Regierungsentwurf vorgesehene Rechtsmittel ist allenfalls die zweitbeste Lösung für dieses Problem. Als solches sieht nämlich der EGMR ein vorbeugendes Rechtsmittel an.
Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausreichende personelle und sachliche Ressourcen zu Verfügung zu stellen, damit es nicht erst zu überlangen Verfahren kommt. Durch das nun vorgeschlagene Entschädigungsverfahren werden unnötig Kapazitäten bei den Instanzgerichten durch Erhebung der Verzögerungsrüge sowie bei den Oberlandesgerichten durch die Entscheidung über den Entschädigungsantrag gebunden. Dafür bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsacheverfahren liegen. Die von der Koalition angedachte Beschleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt. Scheinbar gehen sie davon aus, dass die Richterinnen und Richter im Moment noch über ausreichend freie Arbeitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzögerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so. Und das sage ich Ihnen aus 20-jähriger Erfahrung als Arbeits- und Sozialrichter. Es besteht die Gefahr, dass die betroffenen Richterinnen, Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das jeweilige Verfahren nach Eingang einer Verzögerungsrüge auf Kosten anderer – ebenfalls wichtiger und dringlicher Verfahren – vorziehen. Ich habe einen anderen Lösungsvorschlag: Sorgen sie für eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, geben sie der Justiz mehr Autonomie, dann bekommen wir die Probleme mit überlangen Gerichtsverfahren in den Griff.
Die Gründe für überlange Verfahrensdauern sollten nicht immer bei den Gerichten gesucht werden. So wurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswidrige Hartz IV Gesetzgebung eine Prozessflut an den Sozialgerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in 6 Jahren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der Sozialgerichtsbarkeit geführt. Da muss sich niemand mehr wundern, wenn auf Grund der Vielzahl von sozialrechtlichen Verfahren beispielsweise ein rentenrechtliches Verfahren mit einem Antrag im Jahre 2000 beginnt, über die Instanzen acht Jahre bis zu einer Entscheidung benötigt und im Jahre 2010 mit einer Rüge des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte wegen überlanger Verfahrensdauer abgeschlossen wird. Wo wir gerade im SGB II sind: Was bleibt eigentlich einem Hartz IV Empfänger, wenn er eine Entschädigung für ein mehrere Jahre dauerndes Verfahren zugesprochen bekommt? Wahrscheinlich nichts, denn diese wird wohl auf seine Regelleistungen angerechnet!
Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbetrages, der Nicht-Vermögensschäden ausgleichen soll, lehnen wir ab. Stattdessen sollte ein Betrag für jeden Monat der Verzögerung als Untergrenze und nicht als feste Entschädigung festgelegt werden. Dies ist gerade vor dem Hintergrund der unterschiedlichen psychischen Belastungen der am Gerichtsprozess Beteiligten sinnvoll.
Mit einem Änderungsantrag zu ihrem eigenen Gesetzentwurf versucht die Koalition den Anspruch zu beschränken. Indem man die „Entschädigung“ in eine „angemessene Entschädigung“ umwandelt und dann erklärt, dass damit eine verschuldensunabhängige Haftung gegeben ist, darf der tatsächlich entstandene Schaden nicht mehr ersetzt werden. Die Haftung für den entgangenen Gewinn ist damit ausgeschlossen.
Da man sich aber auch noch nicht sicher ist, ob dieses neue Instrument missbraucht werden oder überhaupt bei den Gerichten auf Zustimmung stoßen wird, sieht die Koalition in einem Entschließungsantrag zu ihrem eigenen Gesetzentwurf vor, die praktischen Folgen dieses Gesetzes nach zwei Jahren zu überprüfen. Dabei werden Sie merken, dass Ihre Lösung nicht den Anforderungen des EGMR entspricht, was wir Ihnen aber schon heute sagen können.