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Türkischen Migrantinnen und Migranten danken, statt sie zu diskriminieren

Rede von Sabine Zimmermann,

Sabine Zimmermann (DIE LINKE):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In Deutschland spricht man gern von deutschen Tugenden. Man spricht auch gern vom deutschen Wirtschaftswunder oder von Deutschland als Exportweltmeister. Allzu oft vergisst man dabei, dass die Hebung der Bundesrepublik Deutschland aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges und das Fundament der wirtschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegsjahre von Menschenhand erarbeitet wurden, von Menschen, die noch heute oft nicht an den Früchten ihrer Arbeit teilhaben dürfen.
50 Jahre deutsch-türkisches Anwerbeabkommen – da ist es Zeit, Bilanz zu ziehen. Diese Bilanz stellt die Feierlaune gerade aufseiten der bisherigen Bundesregierungen erheblich infrage. Denn wenn die Einwanderung aus der Türkei als Erfolgsgeschichte dargestellt werden kann, dann nicht wegen, sondern trotz der herrschenden Migrations- und Integrationspolitik.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb möchte ich im Namen der Fraktion Die Linke den vielen türkischen Migrantinnen und Migranten für ihre Lebensleistung danken, mit der sie maßgeblich mitgeholfen haben, ein Wohlfahrts- und Sozialstaatsmodell aufzubauen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Die daraus erwachsenen sozialen Mindestsicherungen haben ihnen die Bundesregierungen aber gezielt vorenthalten. Am 23. Januar 1971 hieß es im Handelsblatt:
"Der nicht integrierte, auf sehr niedrigem Lebensstandard vegetierende Gastarbeiter verursacht relativ geringe Kosten von vielleicht 30.000 DM. Bei Vollintegration muß jedoch eine Inanspruchnahme der Infrastruktur von 150.000 bis 200.000 DM je Arbeitnehmer angesetzt werden. Hier beginnen die politischen Aspekte des Gastarbeiterproblems."


Jahrzehntelang basierte die offizielle Politik der Bundesregierungen darauf, den Betroffenen politische und soziale Rechte zu verweigern: Integrationshilfen oder Sprachkursangebote – Fehlanzeige; stattdessen Ausweisungsdrohungen und sogenannte Rückkehrförderung. 1988 legte der damalige Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann von der CSU einen Gesetzentwurf vor, wonach ein Ausländer, der sich gut integriert hat, die Aufenthaltserlaubnis verliert. Die Begründung war, dass er durch seine Integration zeige, dass er nicht rückkehrwillig sei. Das ist völlig unverständlich.
(Beifall bei der LINKEN – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Hört! Hört!)


Wenn auch heute gerade türkische Migrantinnen und Migranten überdurchschnittlich oft keinen Schul- und Berufsabschluss haben – das haben wir vorhin schon gehört –, dann ist dies nicht zuletzt auch eine Folge von 50 Jahren Diskriminierung und Dequalifizierung. Rolf Weber von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände brachte es 1971 im Spiegel auf den Punkt:
"Kein deutscher Arbeitgeber beschäftigt Ausländer, um damit Bildungs- oder Entwicklungspolitik zu betreiben. In erster Linie interessiert ihn die Arbeitskraft und was sie für den betrieblichen Produktionsprozeß zu leisten imstande ist."
Auch die Bundesregierungen hatten an sozial- und bildungspolitischen Angeboten für die Migrantinnen und Migranten keinerlei Interesse – als hätte sich seit 1912 nichts geändert. Am 23. Februar 1912 sagte Karl Liebknecht im Deutschen Reichstag:
"Sie wollen die ausländischen Arbeiter in Deutschland, aber sie sollen in Deutschland Sklaven sein …"


Meine Damen und Herren, die aktuellen Zahlen vom Statistischen Bundesamt zum Internationalen Tag für die Beseitigung der Armut kommen einer Bankrotterklärung der unsozialen Politik der letzten Jahrzehnte durch Konservative und Liberale, aber auch durch Sozialdemokraten und Grüne gleich. Diese trifft die Migranten aufgrund der rechtlichen Benachteiligung und strukturellen Diskriminierung in besonderem Maße. Aber auch Berichte der Bundesregierung wie der 8. Lagebericht, der Migrationsbericht, das Working Paper 36 „Migranten am Arbeitsmarkt in Deutschland“ und andere zeigen die Folgen von Ausgrenzung und Diskriminierung.
Obwohl die wesentlichen Handlungsfelder und die Knackpunkte seit Jahrzehnten bekannt sind, hat sich im Leben der meisten Migranten kaum etwas bis gar nichts verändert. Wie auch? Der Bundesregierung geht es gar nicht um die soziale Integration. Sonst würde sie dafür sorgen, dass das vorhandene Geld in massive Ausbildungs-, Bildungs- und Arbeitsmarktförderung fließt
(Beifall bei der LINKEN) statt in milliardenschwere Bankenrettungspakete.


Keine gute Nachricht also zum 50. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens. Der Bundesregierung sind die Rechte türkischer Staatsangehöriger egal. Auf diese kurze Formel lässt sich die Politik der Regierung gegenüber türkischen Migrantinnen und Migranten bringen. Will sie dies ändern, müssen Ausgrenzung und Diskriminierung endlich ein Ende haben.

Danke schön.
(Beifall bei der LINKEN)