Zum Hauptinhalt springen

Soziale Integration fördern – Jetzt auch von der Agenda 2010 verabschieden!

Rede von Sevim Dagdelen,

Beratung des Antrags der Abgeordneten Josip Juratovic, Anette Kramme, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neue Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund am Arbeitsmarkt (BT-Drs. 17/9974)

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Herr Lange, ich muss doch schon sehr bitten. Sie haben gesagt, es ist nicht nur der Pass. Nein, es geht um die Situation, dass allein der Name bereits ausreicht. Der Kollege führt in dem vorgelegten Antrag ja aus, dass es eine Studie der Institute zur Zukunft der Arbeit gibt, die belegt, dass Menschen mit Migrationshintergrund, die einen türkischen Namen aufweisen, bei Bewerbungsverfahren allein aufgrund des Namens trotz gleicher oder sogar besserer Qualifikation als Menschen ohne Migrationshintergrund deutlich weniger zu Vorstellungsgesprächen eingeladen werden. Deshalb bitte ich Sie: Sehen Sie endlich die Realität in Deutschland! Es gibt Diskriminierung. Diese Diskriminierung ist auch strukturell, und deshalb muss sie auch beendet werden. Deshalb appelliere ich an Sie.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich begrüße insoweit für meine Fraktion den Antrag, stellt er doch schon auf die Verbesserung der Situation für Menschen mit Migrationshintergrund ab. Wenn man die letzten Jahre im Deutschen Bundestag Revue passieren lässt, muss man sich fragen, warum Sie von der SPD jetzt eigentlich das fordern, was Sie unter Rot-Grün oder auch Schwarz-Rot, das heißt in sage und schreibe elf Regierungsjahren, immer wieder verhindert haben. Warum haben Sie das damals nicht gemacht?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Es geht um Maßnahmen, die schon seit Jahren von uns gefordert werden: Schaffung eines Zugang zum Arbeitsmarkt, Einführung eines anonymisierten Bewerbungsverfahrens, Anerkennung von Berufsabschlüssen, die im Herkunftsland erworben worden sind. Noch vor ein paar Jahren, als Sie an der Regierung waren, haben Sie unsere Anträge abgelehnt, in denen die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse gefordert wurde. Ich finde es daher nicht besonders seriös, diese Anträge jetzt zu kopieren und vorzulegen.

(Anette Kramme [SPD]: Wie viele Anträge von Ihnen gab es denn zum Arbeitsmarkt und zur Migration? Ich kann mich daran nicht erinnern!)

Ich finde, ein Rückblick schadet nicht. Der Kollege Juratovic sagt, Menschen mit Migrationshintergrund brauchten reale Chancen am Arbeitsmarkt. Schauen wir uns doch die Situation dieser Menschen an. Meine Damen und Herren, ihre Situation ist unerträglich. Ich weiß das sehr genau, weil ich mit diesen Menschen aufgewachsen bin; ich bin ein Mensch mit Migrationshintergrund und erfahre es tagtäglich, wenn die Menschen zu mir kommen und sich über ihre Situation beschweren.

Man muss in diesem Zusammenhang auch über Hartz IV und die Agenda 2010 sprechen.

(Beifall bei der LINKEN)

Hartz IV war und ist das größte Enteignungs- und Dequalifizierungsprojekt in diesem Land, gerade im Hinblick auf Menschen mit Migrationshintergrund. Zu einer möglichen Revision findet sich in Ihrem Antrag selbstverständlich nichts. Ursache und Wirkung sind klar: Jahre-, nein jahrzehntelang sind Menschen mit Migrationshintergrund im Bildungs- und Ausbildungsbereich dequalifiziert worden. Sie wurden von Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen ausgegrenzt und auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert. Ich fordere Sie auf, allein deshalb noch einmal über die Hartz-IV-Gesetzgebung nachzudenken. Denken Sie vielleicht nur fünf Minuten darüber nach, anstatt sich hier aufzuregen. Es ist natürlich so, dass Hartz IV die Menschen bedroht und sie enteignet.

Das betrifft insbesondere Migrantinnen und Migranten, weil sie überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Sie sind auch von einer Gesetzgebung im Niedriglohnbereich überproportional betroffen, die Leiharbeit im heutigen Ausmaß erst möglich gemacht hat. Da tragen Sie Mitverantwortung. Deshalb appelliere ich an Sie: Denken Sie darüber nach, anstatt in nassforscher Steinbrück-Manier auch noch Hartz IV und die Agenda 2010 zu bejubeln.

(Beifall bei der LINKEN – Anette Kramme [SPD]: Das ist so billig!)

– Nein, das ist nicht billig; das ist die Wahrheit. Wenn Sie ein Stück weit Glaubwürdigkeit gewinnen wollen, auch bei Menschen mit Migrationshintergrund, dann sollten Sie sich hier nicht über jene beschweren, die über die unerträgliche Wirklichkeit in diesem Land berichten, sondern dann sollten Sie einmal nur fünf Minuten diesen Menschen zuhören und zur Kenntnis nehmen, was sie fordern.

Präsident Dr. Norbert Lammert:

Diese fünf Minuten haben wir nicht mehr.

Sevim Dağdelen (DIE LINKE):

Diese Menschen fordern ein Verbot der Leiharbeit, einen gesetzlichen Mindestlohn und die Zurücknahme von Hartz IV. Darüber sollten Sie sich einmal Gedanken machen.

(Beifall bei der LINKEN)