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Sie schaffen eine EU der Regierungen, nicht eine EU der Völker

Rede von Gregor Gysi,

Rede zur Regierungserklärung zum EU-Gipfel.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der EU-Gipfel wird sich mit drei Themen befassen: mit der Finanz- und Wirtschaftskrise, mit dem Lissabon-Vertrag und mit dem Klimaschutz.
Zum Klimaschutz: Man kann deshalb auf wirkliche Veränderungen - und zwar in einem positiven Sinn - hoffen, weil Obama diesbezüglich offensichtlich eine gänzlich andere Politik macht als Bush. Ohne die USA kann man das Klima nicht retten und den Klimawandel nicht verhindern. Deshalb haben wir diesbezüglich Hoffnung.

Zur Finanz- und Wirtschaftskrise: Der Europäische Rat hat die Absicht, vorzuschlagen, auf keinen Fall mehr Konjunkturmaßnahmen durchzuführen. Ich muss Ihnen sagen: Ich finde diese Empfehlung der EU abenteuerlich.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Wir haben die Talsohle der Krise noch gar nicht erreicht. Wir wissen noch gar nicht, wie viele Arbeitslose es 2010 geben wird. Aber schon soll entschieden werden: Nichts mehr investieren! Was heißt »nichts mehr investieren, keine Konjunkturprogramme mehr« überhaupt? Die Studenten sowie die Schülerinnen und Schüler gehen auf die Straße und streiken, weil wir ein unterdurchschnittliches Bildungssystem in Europa haben. Wir sollen nun aber im Europäischen Rat beschließen: Es gibt nicht mehr Geld für Bildung. - Das ist doch abenteuerlich; das geht nicht.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Nehmen wir als Beispiel die Binnenwirtschaft: Wir brauchen endlich einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn. Wir brauchen höhere Sozialleistungen. Wir brauchen höhere Renten, und zwar auch für die Wirtschaft; denn sonst wird immer weniger gekauft und werden immer weniger Dienstleistungen in Anspruch genommen - mit dem Ergebnis, dass die Binnenwirtschaft weiter zusammenbricht. Ich kann diese Empfehlung bzw. - wenn es dazu kommt - diesen Beschluss des Europäischen Rates überhaupt nicht nachvollziehen.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Sie haben dazu nichts gesagt, Herr Außenminister.

Im Übrigen will die Regierung selbst über 90 Milliarden Euro weitere Schulden für das Jahr 2009 aufnehmen. Sie verraten uns aber nicht, was Sie im Jahr 2010 vorhaben. Wir wissen zudem nicht, wie viele Schrottpapiere unsere privaten Banken in ihren Bilanzen eigentlich noch haben. Sind es nun über 800 Milliarden, über 900 Milliarden oder über 1 000 Milliarden Euro? Wir bekommen keine Auskünfte. Wir alle sollen bis zum 27. September nur vor uns hinhecheln. Danach werden wir Ihre Wahrheiten erfahren. Aber mir ist das zu spät, muss ich Ihnen sagen, Herr Bundesaußenminister.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Union und FDP beschließen in dieser Phase der Entwicklung Deutschlands auch noch Steuersenkungen. Das ist mehr als ein Zauberladen, den Sie da aufmachen wollen. Das ist völlig absurd.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich sage Ihnen, was nach dem 27. September passieren wird. Ich befürchte, dass man zwei Dinge machen wird: Man wird Sozialleistungen kürzen und natürlich Steuern erhöhen. Ich beschreibe Ihnen nun einmal, wie der Zeitgeist dafür organisiert wird. Zuerst gibt es einen Arbeitgeberverband, der sagt: Per 1. Januar 2011 muss die Mehrwertsteuer von 19 auf 25 Prozent erhöht werden. Dann kommt noch ein satanisches Argument: Wenn man das rechtzeitig beschließt und die Leute schon 2010 wissen, dass am 1. Januar 2011 alles teurer wird, dann kaufen sie 2010 mehr ein, und das belebt die Binnenwirtschaft. So die Theorie dieses Arbeitgeberverbandes. Dann kommt ein Institut aus Hamburg und sagt, man müsse doch zum 1. Januar 2011 die Mehrwertsteuer von 19 auf 25 Prozent erhöhen, und bringt dasselbe Argument. Dann kommt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung und sagt, man müsse doch zum 1. Januar 2011 die Mehrwertsteuer von 19 auf 25 Prozent erhöhen, und macht denselben Vorschlag. Was machen nun Union und SPD? Beide sagen: Das kommt gar nicht in die Tüte.

(Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Das hatten wir schon!)

Aber ehrlich, Herr Bundesaußenminister, ich fühle mich sehr an die Plakate von 2005 »Keine Mehrwertsteuererhöhung« erinnert. Aus null wurden dann 3 Prozentpunkte. Ich befürchte, dass wir dasselbe nach dem 27. September erleben.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Nun komme ich zum nächsten Thema - auch das ist sehr ernst -, zum Lissabon-Vertrag. Sie haben die geringe Wahlbeteiligung bei der Europawahl und eine gewisse EU-Skepsis kritisiert. Sie sagen aber nichts dazu, dass die Regierung das mitorganisiert. Ich will Ihnen dazu zwei Beispiele nennen.

Das eine Beispiel ist: Alle Regierungen der EU versuchen immer, Regelungen im Rahmen des Europarechts dort zu schaffen, wo sie meinen, national nicht weiterzukommen. Dann erleben die Bürgerinnen und Bürger, dass ihnen jeder zweite Bürgermeister jedes dritte Mal, wenn sie berechtigte Anträge stellen, erklärt, das gehe wegen des EU-Rechts leider nicht.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das habe ich noch nie gesagt, und ich bin Bürgermeister!)

Wenn er das sagt, stimmt das in der Hälfte der Fälle, in der anderen Hälfte stimmt es nicht. Das verbessert das Image der EU im Sinn, im Denken und Fühlen der Menschen nicht gerade.

Das zweite Beispiel - das finde ich viel dramatischer - ist: Der Entwurf einer europäischen Verfassung wird vorgelegt. Dann sagen zwei Völker, nämlich Frankreich und die Niederlande, Nein. Daraufhin überlegen Sie nicht, eine bessere Verfassung zu entwickeln. Sie überlegen auch nicht, in allen Mitgliedsländern einen Volksentscheid durchzuführen und überall eine Mehrheit zu erreichen, damit wir eine EU der Völker bekommen. Vielmehr überlegen Sie, wie Sie diesen Vertrag kosmetisch leicht korrigieren, um zu verhindern, dass es in Frankreich und Holland noch einmal einen Volksentscheid gibt. Das heißt, Sie überlegen, wie Sie eine EU der Regierungen schaffen, nicht eine EU der Völker. Genau das haben wir kritisiert.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Eine Ausnahme hier ist Irland. In Irland muss es nun mal zwingend einen Volksentscheid geben. Prompt sagt die Bevölkerung Nein.

(Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Abwarten!)

Nun überlegen Sie sich, was Sie machen. Herr Außenminister, Sie erklären: 26 Staaten haben diesen Vertrag ratifiziert bzw. die Parlamente haben zugestimmt, oder man ist dabei, ihn zu ratifizieren. Die Bevölkerung wurde nicht gefragt. Schön. Dann sagen Sie: Mit Irland müssen wir ein Protokoll anfertigen und eine Regelung finden, damit die Bevölkerung auch Ja sagt. Wissen Sie, dass Sie damit alle 26 Ratifizierungsverhandlungen wieder infrage stellen? Wenn Sie jetzt Irland etwas zubilligen, müssen Sie bedenken, dass das von den anderen Ländern während der Ratifizierung nicht genehmigt worden ist.

Jetzt müssten Sie, wenn Sie das rechtlich korrekt machen wollen, noch einmal 26 Ratifizierungsverfahren einleiten. Das sollten Sie aber erst dann tun, wenn die irische Bevölkerung Ja gesagt hat. Eines geht nicht, nämlich dass Sie in Irland so lange abstimmen lassen, bis es eine Mehrheit für den Vertrag gibt. Gehen Sie doch einen anderen Weg! Schaffen Sie einen Vertrag, der mit Sicherheit die Zustimmung aller Völker der Europäischen Union finden wird! Das wäre der richtige Weg.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Ich möchte nun zwei Punkte ansprechen, die Sie mir einmal erklären müssten. Der erste Punkt ist: In Art. 42 des Lissabon-Vertrages steht:

Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.

Warum, Herr Außenminister, kann in diesem Artikel nicht stehen: Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, abzurüsten? Warum muss in dem Vertrag stehen, dass sie sich verpflichten, aufzurüsten? Weshalb muss man dazu Ja sagen?

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Der zweite Punkt - das ist das stärkste Stück, finde ich -: Sie haben gesagt, Sie wollen eine internationale Finanzzone ohne Grauzonen und ohne schwarze Löcher. Daraufhin wurde sehr intensiv geklatscht. Neue Regulierungen und mehr Bankenaufsicht haben Sie gefordert. Was steht im Vertrag? In Kapital. 4, nämlich in Art. 63, steht - das sage ich auch der FDP -:

Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Zahlungsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten.

Sie haben im Lissabon-Vertrag jede Regulierung ausgeschlossen und behaupten hier das Gegenteil.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Unsinn!)

Sie haben nicht einmal vor, das zu ändern, was dort geregelt ist.

(Kurt Bodewig (SPD): Die Ausgrenzung von Ländern ist verboten! Das ist wirklich Unsinn!)

- Sie können hier so viel herummaulen, wie Sie wollen. Ich weiß, dass Sie alle dem Vertrag zugestimmt haben.

(Kurt Bodewig (SPD): Zu Recht! - Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Aus guten Gründen haben wir zugestimmt!)

Aber das Bundesverfassungsgericht entscheidet erst am 30. Juni dieses Jahres. Danach unterhalten wir uns noch einmal neu.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) Axel Schäfer (Bochum) (SPD): Sehr gerne! Darauf kommen wir zurück!)

Vielleicht haben Sie doch das eine oder andere übersehen.

Ich komme zu einer weiteren Frage. Der Europäische Gerichtshof hat immer wieder Einschränkungen des Streikrechts bestätigt und erklärt, dass öffentliche Aufträge nicht an Tariflöhne gebunden werden dürfen. Warum? Im EU-Recht ist geregelt - keine Regelung im EU-Recht ist ohne Zustimmung der Bundesregierung entstanden, weil dort das Einstimmigkeitsprinzip gilt -, dass die Kapitalfreiheit Vorrang vor sozialen Grundrechten hat. Deshalb gibt es jetzt gemeinsame Erklärungen des DGB mit der SPD, mit den Linken und mit den Grünen, in denen gefordert wird, diese Regelung im Europarecht umzudrehen und dafür zu sorgen, dass die sozialen Grundrechte Vorrang vor der Kapitalfreiheit haben. Nichts davon steht im Lissabon-Vertrag! Er ist nämlich noch unter dem neoliberalen Zeitgeist abgeschlossen worden. Das ist die Wahrheit. Deshalb müssen wir das korrigieren.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos) - Rainder Steenblock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): So ein Unfug!)

Ich bin relativ sicher, dass wir in der Europäischen Union vorankommen, aber nicht auf der Basis der Konservativen und auch nicht auf der Basis des Neoliberalismus. Wir werden nur dann vorwärtskommen, wenn den Menschen soziale Sicherheit gewährt wird. Das heißt, die sozialen Grundrechte müssen endlich im Vordergrund des Europarechts stehen, damit der Europäische Gerichtshof nicht mehr so abenteuerliche Entscheidungen treffen kann, wie er das in der Vergangenheit getan hat.

Danke schön.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))