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Sevim Dagdelen: Für eine soziale Offensive!

Rede von Sevim Dagdelen,

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir leben in einem Land – wie es der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge so treffend formuliert hat –, in dem die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher werden.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Leider!)

Wir leben in einem Land, das sich sozial immer weiter zerlegt; einem Land, in dem der eiskalte Neoliberalismus der letzten drei Jahrzehnte gesellschaftlichen Zusammenhalt immer weiter und immer stärker zerstört; einem Land, in dem in vielen Städten mittlerweile jedes fünfte Kind, ja in manchen sogar jedes dritte Kind von Hartz IV leben muss. Und wir leben in einem Land, in dem sich die soziale Frage in aller Schärfe neu stellt, wie es der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, in seinem wirklich lesenswerten Buch Kein Wohlstand für alle!? auf den Punkt gebracht hat. Schneider benennt in seinem Buch die Dynamik dieser Entwicklung wie folgt – ich zitiere –:

"Den Menschen wurde ein ganzes Stück sozialer Sicherheit genommen. Wer sehr gut verdient und einen sicheren Job hat, kann damit umgehen. Für diejenigen aber, für die jeder Cent zählt und deren Jobs alles andere als sicher sind, häufig nur befristet oder auch als Leiharbeit, ist es eine echte Bedrohung und wird auch so wahrgenommen. Es reicht dann der Zuzug von Flüchtlingen, wie wir ihn in den letzten Jahren hatten, um die politische Stimmung völlig kippen zu lassen, um Rassismus und Aggression hochkommen zu lassen und jenen eine Chance einzuräumen, die mit nationalistischen Parolen erfolgreich sein wollen."

Auf die Frage nach den Ursachen führt der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Schneider, wie folgt aus:

"Doch es waren nicht die Geflüchteten. Es waren die neoliberale Ungleichheitspolitik und die damit verbundenen Ausgrenzungen und Bedrohungen."

Genau deshalb, meine Damen und Herren, ist es verantwortungslos, jetzt von sozialer Ungerechtigkeit zu sprechen, sich aber gleichzeitig in dieser Welt, in der Wirklichkeit, allem zu verweigern, was nur ein Stück mehr an Gerechtigkeit in unserer Gesellschaft schaffen könnte.

(Beifall bei der LINKEN)

Vor diesem Hintergrund: Es gilt ja für Sie gleich als skandalös, wenn man, wie die Linke, mehr soziale Gerechtigkeit und die Wiederherstellung des Sozialstaates fordert. Aber wir als Linke werden dranbleiben, bis diese Ungerechtigkeiten aufgehoben sind.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn es etwas gibt, das CDU, CSU, SPD, FDP und auch die Grünen eint, dann ist es die Zerstörung des Sozialstaates.

(Zuruf von der CDU/CSU: Frechheit!)

Denn ob mit Rot-Grün, Schwarz-Gelb oder jetzt Schwarz-Rot: Seit Jahren wurde die Axt angelegt. Gesundheit ist in unserer Gesellschaft zu einer teuren Ware verkommen. Statt sicherer Arbeitsplätze, guter Löhne und damit natürlich auch guter Renten nehmen 1-Euro-Jobs, Leiharbeit, Dauerbefristungen und auch Werkverträge zu, mit dem Ergebnis, dass Hunderttausende von ihrer Arbeit nicht leben und ihre Familien schlicht nicht ernähren können. Gleichzeitig explodieren die Mieten, und das längst nicht mehr nur in den lukrativen Ballungszentren, wie man sehen kann. Wen wundert es dann, wenn immer größere Teile der Bevölkerung von Zukunftsängsten geplagt werden?

(Zuruf von der CDU/CSU: Unglaublich!)

Es kommt hinzu, dass die Infrastruktur in Deutschland auf den Hund gekommen ist. Das Ergebnis dieser rigorosen Rotstiftpolitik der vergangenen Jahre: marode Brücken, marode Bahnstrecken, Schlaglöcher in den Straßen und immer mehr Schwimmbäder, die schließen müssen.

(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Alles in rot-rot regierten Ländern!)

Der Investitionsrückstand beträgt allein bei den Kommunen mittlerweile 130 Milliarden Euro. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung errechnete einen Investitionsstau von über 1 000 Milliarden Euro seit 1999. Dieses Kaputtsparen, meine Damen und Herren, hat wirklich ganz konkrete Konsequenzen. Mittlerweile kann am Ende der vierten Klasse nur noch jeder zweite Grundschüler schwimmen, klagt die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft. Nicht besser sieht es bei den öffentlichen Bibliotheken als Orten von gesellschaftlicher Teilhabe, als Orten von Austausch und Begegnung aus, so wie ich es zumindest empfunden und auch gelernt habe. Auch sie werden nach und nach weggespart und damit nach und nach geschlossen.

Doch nicht nur im Bereich der fehlenden Investitionen wurde der Staat gezielt geschwächt. Auch vor der Ankunft der Flüchtlinge gab es zu wenige Lehrer, zu wenige Krankenpfleger, zu wenige Finanzbeamte und zu wenige Polizisten.

(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist alles Sache der Länder!)

Auch durch die massiven Kürzungen im öffentlichen Dienst in den letzten Jahren war man als Staat damals bei der Ankunft von vielen Flüchtlingen nur noch bedingt handlungsfähig. Dabei ist der Sozialstaat gerade auch für gesellschaftliche Notsituationen konzipiert worden. Ein starker Sozialstaat hätte in dieser Situation ganz anders reagieren können. Deshalb fordern wir die Wiederherstellung eines starken Sozialstaates in Deutschland.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie sagen: Wir haben doch in die Integration investiert. – Sicher, das ist unbestritten so. Das sagen auch wir Linke und haben es immer gefordert. Für die Integrationsleistungen wendete der Bund laut dem Bundesfinanzministerium im vergangenen Jahr 2,1 Milliarden Euro auf. Doch das reicht bei weitem nicht aus. Auch die Überweisungen des Bundes an die Länder und Kommunen, die 9,3 Milliarden Euro, reichen nicht aus, um die Integrationskosten vor Ort zu decken. Man hängt auch einer gefährlichen Illusion an, wenn man glaubt, dass die Gelder, die man eingeplant hat, reichen und man den Haushalt nicht entsprechend aufstocken müsste. Die Folgen sind für uns alle verheerend; denn das Geld reicht einfach nicht aus – das beklagen zumindest die Kommunen bei uns in NRW –, um ausreichend Integrationskurse anzubieten, und auch für den notwendigen Bau von Sozialwohnungen, Kindergärten und Schulen ist kein Geld da.

(Sabine Weiss [Wesel I] [CDU/CSU]: Dann wird es Zeit, dass da die Regierung wechselt! Rot-Grün hat abgewirtschaftet!)

– Meine liebe Kollegin, das trifft auch für die CDU- oder CSU-regierten Kommunen zu.

(Zuruf von der CDU/CSU: Nicht so sehr!)

Es ist nicht so, dass nur die rot-grün regierten Bundesländer davon betroffen sind. Es ist so, dass man die Kommunen in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer weiter finanziell hat ausbluten lassen. Sie sollten mit dieser Parteipolitik aufhören; denn ein Finger zeigt auch auf Sie. Von einer sozialen Offensive zu sprechen, sollte man vermeiden, wenn man bedenkt, dass das Geld vor Ort nirgendwo reicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Es ist eine schwere Hypothek auf die Zukunft, die Sie mit dieser Art der unzureichenden Integrationspolitik aufnehmen. Zusätzlich schüren Sie Ressentiments in diesem Land, fördern die Spaltung dieser Gesellschaft, wenn Sie Flüchtlinge als Lohndrücker einsetzen wollen, indem Sie beispielsweise 100 000  80-Cent-Jobs für Flüchtlinge schaffen oder den Mindestlohn bei Flüchtlingen aussetzen wollen und das alles Integrationsgesetz nennen. Wir lehnen das ab. Sie sollten vernünftige Löhne sowohl für die Einheimischen als auch für die Geflüchteten als Regel einführen und nicht irgendwelche Ausnahmen.

(Beifall bei der LINKEN)

In diesem Sinne ist es für uns auch völlig inakzeptabel, dass Sie mit 300 Millionen Euro Sprachkurse für die Flüchtlinge von der Arbeitsagentur und damit aus den Beiträgen der Arbeitslosenversicherung bezahlen lassen. Es kann doch nicht sein, dass die Integrationskosten den Beitragszahlern der Sozialversicherung aufgebürdet werden, während Sie hier andererseits jede Initiative zur Einführung einer Reichensteuer, einer Millionärssteuer blockieren. Das zeigt nur, welche Interessen Sie bedienen.

Wir sagen: Das Geld ist da. Wir müssen dafür sorgen, dass die Reichen in diesem Land den Tisch decken für eine soziale Offensive in diesem Land, damit Integration gelingen kann, damit nicht gespaltet wird, damit kein Rassismus in diesem Land geschürt wird, sondern eine Perspektive für alle Menschen in Deutschland gewährleistet ist und somit denjenigen, die von dieser Situation profitiert haben, der Nährboden entzogen wird.

Vielen Dank.

(Beifall bei der LINKEN)