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Schwarz-Gelb: Vier verlorene Jahre für die Pflege

Rede von Kathrin Senger-Schäfer,

Rede zum Antrag der SPD Für eine umfassende Pflegereform – Pflege als gesamtgesellschaftlicheAufgabe stärken, Drucksache 17/9977 und zum Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Pflege-TÜV hat versagt – Jetzt echte Transparenz schaffen: Pflegenoten aussetzen und Ergebnisqualität voranbringen, Drucksache 17/13760

Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Herr Gesundheitsminister, wir freuen uns natürlich mit Ihnen. Die Linke freut sich über jedes neu geborene Kind. Wir gratulieren Ihnen ganz herzlich. Aber wir wünschen uns auch sehr, dass sich Carlotta später einmal keine Sorgen um ihre eigene Pflege machen muss.

(Zuruf von der FDP: Das muss sie bei dem Vater auch nicht!)

Dafür muss man aber etwas tun. Das ist Ihnen aus unserer Sicht in diesen vier Jahren Regierungsarbeit nicht gelungen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Pflege ist ein Stiefkind dieser Regierung. Wesentliche Verbesserungen in der Pflege sowohl für die zu Pflegenden als auch für die Pflegenden sind nicht erzielt worden. Wir haben also vier Jahre verschlafen.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Stimmt nicht!)

Es ist zu beklagen, dass die Zeit nicht genutzt wurde. Vier Jahre sind nicht genutzt worden, um bei dem Thema Pflege voranzukommen. Das ist eine sehr traurige Bilanz für Ihre Regierungsarbeit im Bereich Pflege.

(Beifall bei der LINKEN - Matthias W. Birkwald (DIE LINKE): Und bei der Rente!)

Wir haben die Zahl schon gehört: 2,5 Millionen Pflegebedürftige leben in diesem Land und warten dringend darauf, dass die Politik ihnen die notwendige und auch dringend benötigte Hilfe zuteilwerden lässt. Fest steht aber, dass für die vielen Pflegebedürftigen, die vielen Pflegefachkräfte und die vielen pflegenden Angehörigen in vier Jahren Schwarz-Gelb keine wesentlichen Verbesserungen auf den Weg gebracht werden konnten.

Fest steht auch, dass mit Ihrem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz und der damit verbundenen Einführung des Pflege-Bahrs ein völlig falscher Weg in der Finanzierung der Pflegeversicherung eingeschlagen wurde. Pflege hängt heute mehr denn je von der Größe des eigenen Geldbeutels ab. Anstatt die soziale Schieflage der Pflegeversicherung an ihren Wurzeln zu packen, hat der Privatisierungswahn von Union und FDP die Pflegeversicherung völlig aus den Angeln der Gerechtigkeit gehoben.

(Beifall bei der LINKEN - Zurufe von der FDP: Oh!)

- Das ist so.

Fest steht auch, dass heute, nach der Übergabe des Berichts des Expertenbeirats, der die Details für die Umsetzung einer neuen Definition von Pflege vorbereiten sollte, eine umfassende Pflegereform auf die nächste Legislatur verschoben wurde. Die Bundesregierung ist damit eine Ankündigungsregierung, nicht mehr und nicht weniger.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Im Kern geht es natürlich um die Frage, wer als pflegebedürftig gelten soll und Geld aus der Pflegeversicherung bekommt. Sollen es nur diejenigen sein, die Hilfe beim Waschen und Anziehen brauchen, oder auch die, welche Beaufsichtigung und Betreuung brauchen, weil sie beispielsweise an Demenz erkrankt sind? Wir reden also davon, dass Menschen, die sich beispielsweise nicht mehr selbst waschen können, möglicherweise Geld von der Pflegeversicherung erhalten, während andere, die aufgrund von Demenz vergessen, dass sie sich überhaupt waschen müssen, oder die den Putzlappen mit einem Waschlappen verwechseln und deshalb Betreuung brauchen, im System der Pflegeversicherung faktisch keine Berücksichtigung finden und bei der Pflegeeinstufung durch das Raster, also in die Pflegestufe 0, fallen.

Bei diesem wichtigen Punkt wird jedoch vergessen, dass es noch um weit mehr geht. Es geht nämlich um ein völlig neues und innovatives Verständnis von Pflege. Ist der Ausgangspunkt, was ein Mensch nicht mehr kann, oder ist der Ausgangspunkt, was er noch kann, also seine Selbstständigkeit? Das ist ein enormer Unterschied und entscheidend für die Frage von Selbstbestimmung und gesellschaftlicher Teilhabe, über die wir immer reden.

(Beifall bei der LINKEN)

Dies entscheidet letztlich darüber, ob wir pflegebedürftige Menschen auf das Abstellgleich der Gesellschaft stellen oder eben nicht.

Sie erzählen uns immer wieder, dass die dürftigen Leistungsanhebungen, die Sie mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz für die sogenannte Pflegestufe 0 festschreiben, ein Vorgriff auf den neuen Pflegebegriff seien. Das ist unehrlich und falsch.

(Beifall bei der LINKEN)

Ein ebenso verheerendes Signal ist, dass sich die Arbeit am neuen Pflegebegriff zum Paradebeispiel des Aussitzens und des Vertagens entwickelt hat. Bereits mit der neuerlichen Einberufung des Beirats im letzten Jahr war abzusehen, dass wir in dieser Wahlperiode kein Gesetz bzw. keine Pflegereform, die diesen Namen auch nur im Ansatz verdient hätte, verabschieden werden. Seien wir einmal ehrlich: Selbst wenn der Beirat seine Ergebnisse zügig präsentiert hätte, wäre kaum genügend Zeit gewesen, diese in Gesetzesform zu gießen, zu beraten und auch noch zu verabschieden. Das ganze Unterfangen war nämlich von Anfang an zeitlich gesehen eine Farce und ein Spiel auf Zeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Beiratsmitglieder wurden für diese Zeitschinderei und die Gesichtswahrung des Bundesgesundheitsministers missbraucht. Den Menschen wurde vorgeheuchelt, dass sich pflegepolitisch endlich etwas Substanzielles bewegen würde und sie bald grundlegende Verbesserungen erwarten könnten. Pustekuchen!

Wir kennen das schon aus der letzten Legislatur. Zur schlimmen Wahrheit gehört mittlerweile auch, dass die Mitglieder des Expertenbeirats offenbar untereinander in Unstimmigkeiten verfallen sind und zeitweise sogar ein Scheitern befürchtet werden musste.

(Otto Fricke (FDP): Komisch, dass Experten nicht einer Meinung sind!)

‑ Hören Sie einmal zu.

(Otto Fricke (FDP): Das mache ich die ganze Zeit!)

Wohlfahrtsverbände und Arbeitgebervertreter drohten zuletzt sogar mit dem Ausstieg; das ist die Wahrheit. Was war der Grund für die Streitigkeiten? Schlicht und ergreifend das Geld; von 2 Milliarden Euro jährlich ist die Rede. Das löst bei mir wirklich Unverständnis aus,

(Otto Fricke (FDP): Ihre Rede bei uns auch!)

zumal es vonseiten des Gesundheitsministeriums keine Vorgaben zum Finanzvolumen gab. Außerdem halte ich die genannte Summe von jährlich 2 Milliarden Euro für deutlich zu niedrig.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elke Ferner (SPD) ‑ Hilde Mattheis (SPD): Wenn es denn 2 Milliarden wären!)

Unserer Meinung nach lässt sich auf diese Weise kein neuer Pflegebegriff umsetzen. Unser Ziel ist es, dass viele besser- und keiner schlechtergestellt wird. Mit der Linken wird es jedenfalls keinen Pflegebegriff light geben. Das kündige ich hier schon einmal für die nächste Legislatur an.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Linke gilt: Jeder Mensch, der von Pflege betroffen ist oder Betreuung und Assistenz benötigt, muss die bestmögliche Pflege erhalten, und zwar nach seinen individuellen Bedürfnissen. Für die Linke und für mich persönlich ist das eine Grundlage, auf der sich Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe überhaupt erst wahrnehmen lässt.

Dazu gehört auch ‑ das ist ein Alleinstellungsmerkmal der Linken ‑, dass das Teilkostenprinzip der Pflegeversicherung endlich einmal infrage gestellt wird.

(Beifall bei der LINKEN)

Für die Linke ist das Teilkostenprinzip die Keimzelle der vielschichtigen Probleme, die heute im Pflegebereich zu verzeichnen sind. Denn die Pflegeversicherung billigt den Betroffenen nur einen Zuschuss zu den tatsächlichen Pflegekosten zu. Um die Kosten für den individuellen Pflege- und Betreuungsbedarf abzudecken, müssen die Betroffenen und ihre Angehörigen auf ihr Einkommen und Vermögen zurückgreifen. Den vielen, denen das nicht möglich ist, bleibt dann entweder nur die Sozialhilfe oder die Abhängigkeit von den Angehörigen, sofern sie welche haben. Zumeist handelt es sich dabei um Ehefrauen, Töchter und Schwiegertöchter.

Beispielsweise liegt in einer einfachen stationären Berliner Pflegeeinrichtung der Anteil der Kosten, der in der Pflegestufe III selbst zu bezahlen ist, bei 1 500 Euro und 94 Cent monatlich. Zum Vergleich: Frauen im Westen scheiden heute mit einer durchschnittlichen Rente von 509 Euro aus dem Berufsleben aus. 509 Euro!

(Agnes Alpers (DIE LINKE): Skandal!)

Auf diese Art und Weise produzieren wir Altersarmut und akzeptieren gleichzeitig Geschlechterungerechtigkeit, da es fast ausschließlich die Frauen sind, die pflegen. Nebenbei fördern wir auch noch einen unkontrollierten grauen Pflegemarkt, der eher an Sklaverei als an gute und hochqualitative Pflege erinnert.

(Beifall bei der LINKEN ‑ Heinz-Peter Haustein (FDP): Eine Frechheit so was!)

Ein für alle Mal: So darf es nicht weitergehen!

Vieles spricht dafür, dass eine Vollversicherung in der Pflege, ein neuer Pflegebegriff und eine solidarische Bürgerinnen- und Bürgerversicherung die besten Zutaten für gute Pflege und attraktive Arbeitsplätze in der Pflege sind. Die Angehörigen werden auch durch eine echte Wahlfreiheit entlastet: Will ich pflegen, oder muss ich pflegen? Das ist doch die Frage.

(Beifall bei der LINKEN)

Kurzfristig müssen natürlich ordentliche Leistungsanhebungen und der Ausgleich des Werteverlustes in der Pflege erfolgen. Das fordert nicht nur die Linke, sondern auch viele Pflegeexpertinnen und -experten.

Nun zur Kritik an den Pflegenoten. Die Pflegenoten werden im Internet veröffentlicht, um den Betroffenen und ihren Angehörigen die Auswahl und den Vergleich von Pflegeeinrichtungen zu erleichtern. Die Überarbeitung dieser Pflegenoten ‑ das haben wir schon gehört ‑ ist mehr als überfällig.

(Willi Zylajew (CDU/CSU): Das passiert!)

Pflegenoten machen nämlich keinen Sinn, wenn zum Beispiel die Schriftgröße des Speiseplans in einen direkten Zusammenhang mit dem Wundliegen von Pflegebedürftigen gesetzt wird. Eine vorübergehende Aussetzung der Veröffentlichung der Pflegenoten macht Sinn. Denn die Gesamtnoten der Prüfberichte zeichnen ein unklares Bild der Qualität von Pflegeeinrichtungen; Unterschiede sind kaum festzustellen. Damit verfehlen die Pflegenoten ihr eigentliches Ziel: Transparenz und Übersicht herzustellen.

Auch das ewige Hin und Her in der Debatte um die Messung von Ergebnisqualität verunsichert diejenigen, die sich meist sehr kurzfristig für eine Pflegeeinrichtung entscheiden müssen. Wenn Vater oder Mutter plötzlich zum Pflegefall werden, muss ich schnell und sicher eine Entscheidung treffen können. Das ist anhand dieser Pflegenoten nicht möglich.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Übrigen: Die Linke hat die Aussetzung der Veröffentlichung der Pflegenoten bereits 2010 gefordert.

Eines muss klar sein: Die Pflege muss als öffentliche Daseinsvorsorge und nicht als Geschäftemacherei begriffen werden. Wir sagen: Pflege ist keine Ware. Gute Pflege ist ein Menschenrecht.

(Beifall bei der LINKEN)

Von entscheidender Bedeutung ist zudem, wie und unter welchen Bedingungen das Pflegepersonal arbeitet. Erst durch gute Arbeitsbedingungen wird qualitativ hochwertige Pflege möglich. Das ist nach unserer Auffassung entscheidend und muss in eine gute Bewertung mit einfließen.

(Otto Fricke (FDP): Aber jetzt ist gut! ‑ Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär: Wie lange darf die reden?)

Wir sagen: Gute Pflege ‑ hören Sie ruhig zu ‑ kommt von guter Arbeit ‑ das ist wesentlich ‑, von guten Löhnen und von einer guten Pflegeausbildung. Das ist und bleibt für uns, die Linke, der Maßstab.

(Beifall bei der LINKEN)

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Frau Kollegin.

Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):

Ich bin am Ende meiner Rede. Ich wollte mich noch kurz bedanken.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:

Bitte.

Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das war meine letzte Rede im Deutschen Bundestag. Ich danke Ihnen allen für die konstruktive Zusammenarbeit, und ich bedanke mich bei all denen, die mich auf diesem Weg begleitet haben.

Danke schön.

(Beifall im ganzen Hause)