Zum Hauptinhalt springen

Sahra Wagenknecht: Für ein Land, in dem alle gut leben können – ohne Niedriglohn und Altersarmut

Rede von Sahra Wagenknecht,

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Präsident! Lieber Herr Dr. Lammert, als Erstes möchte ich Ihnen, natürlich auch im Namen meiner Fraktion, unsere Anerkennung und unseren Dank für Ihre faire Amtsführung aussprechen. Wir wünschen Ihnen für Ihre Zukunft alles Gute.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der französische Präsident Macron ist bekanntlich mit der Bewegung La République en Marche an die Macht gekommen. Wenn Sie, Frau Bundeskanzlerin, eine Wahlplattform gründen würden, müsste die wohl eher „La République en transe“ heißen. Wer in Trance ist, der nimmt bekanntlich die Realität nur noch sehr eingeschränkt wahr, und der neigt ab und an zu anlassloser Euphorie.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Einlullend, inhaltsleer, demobilisierend – so beschreiben viele Journalisten Ihren Wahlkampf, Frau Bundeskanzlerin. Dass Sie in einer Zeit, in der auch im reichen Deutschland unzählige ungelöste Probleme den Wohlstand der Bürgerinnen und Bürger bedrohen, in einer Zeit großer weltpolitischer Gefahren versuchen, mit einem Schönwetter-Wohlfühl-Wahlkampf eine demokratische Debatte über die Lösung dieser Probleme von vornhe­rein zu verhindern, das finden wir – ich glaube, nicht nur wir – wirklich empörend.

(Beifall bei der LINKEN)

Sie erzählen den Leuten, Deutschland ginge es so gut wie nie zuvor.

(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das ist doch wahr!)

Wer aus der Trance aufwacht, der stellt fest: Nach den Zahlen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung haben heute sage und schreibe 40 Prozent der Bevölkerung in Deutschland weniger Einkommen als Ende der 90er-Jahre. Gehört für Sie fast die Hälfte der Bevölkerung nicht zu Deutschland? Was ist denn das für eine Anmaßung!

(Beifall bei der LINKEN)

Da plakatiert die Union allen Ernstes: „Für gute Arbeit und gute Löhne.“ Ja, es gibt in Deutschland viele erfolgreiche Unternehmen. Es gibt hochqualifizierte Arbeitskräfte, und es gibt zum Glück auch viele gut bezahlte Arbeitsplätze; aber das war früher auch schon so. Neu ist, dass selbst im Wirtschaftsboom immer mehr ungesicherte, schlecht bezahlte Jobs entstanden sind und dass sich inzwischen sogar die Bundesbank angesichts der schwachen Lohnentwicklung in Deutschland Sorgen macht. Neu ist, dass sich der Anteil derer, die trotz Arbeit ein Einkommen unterhalb der Armutsschwelle beziehen, in den letzten zehn Jahren – also genau in Ihrer Amtszeit, Frau Merkel – mehr als verdoppelt hat. Ich finde, mit so einer Bilanz „Für gute Arbeit und gute Löhne.“ zu plakatieren, ist eine Verhöhnung der Wählerinnen und Wähler.

(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie gute Löhne wollen, dann hätten Sie doch zwölf Jahre lang die Möglichkeit gehabt, den von Rot-Grün unter Gerhard Schröder geschaffenen Niedriglohnsektor wieder einzudämmen. Sie hätten doch unsere Vorschläge umsetzen können, grundlose Befristungen zu verbieten und der Lohndrückerei über Leiharbeit und Werkverträge die gesetzliche Grundlage zu entziehen. Sie hätten dafür sorgen können, dass der Mindestlohn mehr ist als ein Armutslohn, den der Steuerzahler mit 10 Milliarden Euro an Aufstockerleistungen jedes Jahr subventionieren muss.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber nichts davon haben Sie getan. Stattdessen erzählen Sie uns gemeinsam mit der SPD das Märchen, die Agenda-2010-Gesetze hätten die Arbeitslosigkeit dramatisch verringert. Der Wirtschaftsweise Peter Bofinger hat Ihnen daraufhin zu Recht „ökonomische Ignoranz“ vorgeworfen.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

„Familien sollen es kinderleichter haben.“, lese ich auf Ihren Plakaten. Wunderbar! Warum haben Sie denn nichts daran geändert, dass Kinder das Armutsrisiko Nummer eins in diesem Land sind? Warum lassen Sie es seit Jahren zu, dass steigende Mieten gerade Familien aus den Innenstädten vertreiben, weil sie schlicht keine bezahlbare Wohnung mehr finden können? Und warum stört es Sie nicht, dass bundesweit 350 000 Kitaplätze fehlen und viele Kinder in maroden Schulen lernen müssen, wo wegen chronischen Lehrermangels noch nicht einmal der Schulstoff geschafft wird?

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Natürlich wissen auch wir, dass Bildung Ländersache ist. Wir wissen aber auch, dass die Finanzen, die die Länder zur Verfügung haben, von der Steuerpolitik des Bundes abhängen und dass Ihre Steuerpolitik, Frau Merkel, immer darauf hinauslief, die Mittelschicht zu belasten, aber Konzerne und Superreiche steuerlich zu schonen.

(Beifall bei der LINKEN)

So hat man auf die Milliardeneinnahmen verzichtet, die man aber braucht, wenn man gute Bildung, gute Pflege und eine gute Gesundheitsversorgung finanzieren will.

„Für Sicherheit und Ordnung.“ werben Sie auf Ihren Plakaten. Was ist das für eine Ordnung, in der Großbetrüger in Banken und Konzernen immer wieder damit durchkommen, die Allgemeinheit massiv zu schädigen, ohne für die Folgen zur Verantwortung gezogen zu werden?

(Beifall bei der LINKEN)

Das jüngste Beispiel dafür ist doch der Dieselskandal. Ich finde, es ist wirklich blamabel, dass die Große Koalition nicht das Rückgrat hat, Autobauer, die in den letzten fünf Jahren 111 Milliarden Euro Gewinn gemacht haben, zur Nachrüstung der Motoren zu verpflichten.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Auch mit Ihrer Außenpolitik haben Sie die Sicherheit in unserem Land nicht erhöht. Im Gegenteil: Sie haben die gute Tradition der Entspannungspolitik aufgegeben und sich – anders als Ihre Vorgänger Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und auch Gerhard Schröder – von den USA in eine Konfrontationspolitik gegenüber Russland

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Freundschaft!)

hineintreiben lassen, die unsere Sicherheit gefährdet und unsere Wirtschaft schädigt.

(Beifall bei der LINKEN)

Herr Lammert hat vorhin an die deutsche Wiedervereinigung erinnert. Es hatte doch auch einiges mit Entscheidungen in Moskau zu tun, dass das alles auf diese Art so friedlich geschehen konnte.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Frau Merkel, Sie haben unsere Soldaten immer wieder in neue gefährliche Kriege geschickt, obwohl wir seit dem Beginn des Krieges in Afghanistan erleben – ich erinnere an Kunduz –, dass Bomben und zivile Opfer die Dschihadisten stärken und nicht schwächen. Gibt es Ihnen nicht zu denken, dass es 2001, vor Beginn des ersten sogenannten Antiterrorkrieges, weltweit wenige Hundert gefährliche islamistische Terroristen gab und dass es heute Hunderttausende sind? Der „Islamische Staat“, dessen Anschläge jetzt immer öfter auch Europa treffen, ist doch das Produkt des verbrecherischen Irakkrieges, an dem Sie sich damals sogar noch beteiligen wollten.

(Beifall bei der LINKEN)

Während viele Menschen vor neuem Terror flüchten, liefern Sie den Chefs der islamistischen Gefährder, den Kopf-ab-Diktatoren am Golf und dem türkischen Despoten Erdogan unverändert Waffen und Kriegsgerät frei Haus. Ich finde, das ist wirklich überhaupt nicht akzeptabel.

(Beifall bei der LINKEN)

Insoweit ist es auch Ihre Verantwortung, Frau Merkel, dass sich die Lebensunsicherheit und die Zukunftssorgen vieler Bürgerinnen und Bürger in den zurückliegenden zwölf Jahren erheblich gesteigert haben. Und dennoch soll es keine Wechselstimmung geben? Ich denke, es ist eher so, dass die meisten Menschen die Hoffnung auf einen echten Wechsel aufgegeben haben. Wo soll denn eine Wechselstimmung herkommen, wenn alle Parteien außer der Linken signalisieren, dass sie eigentlich gar nichts Grundlegendes ändern wollen,

(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

und wenn man insbesondere die Unterschiede zwischen SPD und CDU wirklich mit der Lupe suchen muss.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU und der SPD)

Das wurde ja beim Kanzlerduell, das alles andere als ein Duell war, mehr als deutlich.

(Beifall bei der LINKEN – Christine Lambrecht [SPD]: Sie waren aber auch ganz nahe bei der AfD!)

Wie groß die Sehnsucht nach einem Wechsel tatsächlich ist, das konnte man, denke ich, nach der Nominierung von Martin Schulz erleben. Warum sind denn die Umfragewerte der SPD damals so nach oben gegangen? Weil viele Menschen die Hoffnung hatten, die SPD würde mit dem neuen Kanzlerkandidaten auch ihre Politik verändern, sie würde wieder eine sozialdemokratische Partei werden. Und das hat ihre Umfragewerte hochgetrieben. Aber danach haben Sie wirklich alles dafür getan, diese Hoffnung zu zerstören.

(Beifall bei der LINKEN)

Dazu muss ich sagen: Wer an Leiharbeit, an Niedriglöhnen, an Hartz IV überhaupt nichts mehr ändern will, wer sich nicht einmal traut, eine Vermögensteuer für Superreiche zu fordern, der sollte wirklich aufhören, von sozialer Gerechtigkeit zu reden.

(Beifall bei der LINKEN)

„Damit die Rente nicht klein ist …“, das lese ich auf SPD-Wahlplakaten, illustriert durch das Bild einer fröhlichen Rentnerin. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, meinen Sie wirklich, die Wähler haben vergessen, dass die schlimmsten Rentenkürzungen unter Ihrer Verantwortung stattgefunden haben, dass Sie mit der Absenkung des Rentenniveaus, mit dem Riester-Betrug und mit der Rente erst ab 67 dafür gesorgt haben, dass die Renten für viele verdammt klein geworden sind? Jeder sechste Rentner lebt heute unter der Armutsgrenze. Daran wollen Sie noch nicht einmal etwas ändern. Der einzige Unterschied zur Union ist, dass Sie die Rente nicht noch weiter kürzen wollen. Das ist wirklich eine hinreißende Alternative. Dabei können wir in unserem Nachbarland Österreich sehen, wie man den Menschen einen sorgenfreien Lebensabend ermöglichen kann. Dort zahlen alle in einen Rententopf ein: Selbstständige, Beamte und Politiker. Im Ergebnis bekommt ein Durchschnittsrentner 800 Euro mehr im Monat. Das wollen Sie den Menschen in unserem Land vorenthalten?

Bei der Außenpolitik würden wir uns natürlich darüber freuen, wenn die Übernahme unserer Forderungen nach Abrüstung und nach einem Abzug der Atomwaffen aus Deutschland durch Martin Schulz ernst gemeint gewesen wäre. Niemand braucht diese gefährlichen Waffen in Deutschland. Niemand braucht weitere Aufrüstung. Das ist völlig richtig. Aber das, was Sie heute früh wieder hier abgezogen haben, zeigt doch, wie wenig ernst Sie das meinen, was Sie jetzt auf den Marktplätzen und auf den Straßen erzählen. Sie haben verhindert, dass ein Antrag von uns nicht einmal auf die Tagesordnung gesetzt wurde, mit dem wir mit der jetzt noch vorhandenen Mehrheit im Bundestag genau das hätten beschließen können. Ich finde das wirklich traurig.

(Beifall bei der LINKEN)

So gesehen wäre es tatsächlich ungerecht, der Bundeskanzlerin die alleinige Verantwortung dafür zu geben, dass dieser Wahlkampf in gepflegter Langeweile dahinplätschert. Wer hat denn die SPD daran gehindert, ein glaubwürdiges Alternativangebot zum Weiter-so-Wahlkampf der Kanzlerin zu unterbreiten? Sie haben es nicht getan.

(Thomas Oppermann [SPD]: Dann reden Sie einmal über Ihre Angebote!)

Und damit sind Sie mitverantwortlich dafür, dass die Wählerinnen und Wähler wieder nicht zwischen alternativen Regierungen mit klar unterschiedenem Programm entscheiden können. Das untergräbt tatsächlich die Demokratie.

(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn!)

Wer sich ein Deutschland wünscht, in dem wirklich alle gut und gerne leben können, ein Deutschland ohne Niedriglöhne und Altersarmut, in dem Politiker sich nicht mehr von Konzernen kaufen lassen und Geld für Bildung statt für Panzer ausgegeben wird, der kann heute tatsächlich nur noch die Linke wählen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich bin auch überzeugt: Nur ein Weckruf durch eine deutlich gestärkte Linke kann vielleicht verhindern, dass sich die SPD nach ihrer Wahlniederlage in der nächsten Großen Koalition verkriecht – Herr Mützenich hat Martin Schulz schon einmal nur zum Fraktionsvorsitzenden gemacht; ich fand interessant, was Sie vorhin gesagt haben – und so der Union ein Zeitlosticket für die Fahrt im Schlafwagen an die Macht verschafft. Wir wünschen uns, dass sich das endlich verändert.

(Beifall bei der LINKEN)