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»Sagen Sie doch mal den Leuten einfach die Wahrheit«

Rede von Gregor Gysi,

Antwort auf die Regierungserklärung der Kanzlerin zum EU-Gipfel

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Fricke, wenn ich Sie richtig verstanden habe, soll Deutschland in Europa führen, es aber nicht so nennen. Ich sage Ihnen: Ich bin für ein gleichberechtigtes Europa. Niemand soll über uns, aber auch niemand soll unter uns stehen. Das ist, glaube ich, sehr viel sinnvoller.

(Beifall bei der LINKEN)

Aber wenn Deutschland schon führt, und das auch noch mit der FDP an der Spitze, kann ich nur sagen: Na, dann gute Nacht. Also, das wird nun überhaupt nichts.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Herr Gabriel, ich habe Ihnen zugehört. Das war eine interessante, eine spannende, eine sehr kritische Rede. Sie müssen den Bürgerinnen und Bürgern nur noch erklären, weshalb Sie trotz Ihrer Kritik bisher jede Vorlage der Bundesregierung mit beschlossen haben. Das passt beim besten Willen einfach nicht zusammen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Euro-Krise überschattet die gesamte europäische Integration. Die Währung gerät unter Druck. Die Krise ist längst nicht überwunden. Frau Bundeskanzlerin, Sie haben wieder von einer Staatsschuldenkrise gesprochen. Sagen Sie den Bürgerinnen und Bürgern doch einmal, dass die Staatsschulden deshalb so hoch sind, weil die Staaten für ihre Banken und Hedgefonds gezahlt haben. Das ist der Hintergrund, und das muss man einfach erwähnen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es geht im Kern um etwas, worüber wir viel zu wenig reden, nämlich um die Frage der politischen Akzeptanz Europas bei den Bürgerinnen und Bürgern. Bundesfinanzminister Schäuble hat jetzt die Umsetzung des Beschlusses des CDU-Parteitages abgelehnt, dass endlich auch Mütter einen Rentenzuschlag bekommen, die nicht nach, sondern vor 1992 Kinder bekommen haben. Er tat dies mit der Begründung, dass wir für Griechenland bezahlen müssten und dass deshalb kein Geld dafür zur Verfügung stehe. Das ist abenteuerlich. Ich werde dazu Stellung nehmen.
Das Zweite ist, dass bei den Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfängern das Elterngeld mit der Begründung gestrichen wurde, man müsse den Haushalt konsolidieren. Es ist doch wirklich beim besten Willen nicht hinnehmbar, Herr Kauder, dass Leute, die nichts, aber auch nichts getan haben, was die Krise verursacht hat, diese bezahlen sollen. Hören Sie doch endlich einmal auf mit dieser Politik!

(Beifall bei der LINKEN)

Das muss man damit vergleichen: Frau Bundeskanzlerin und Herr Kauder und Sie alle verweigern eine Vermögensabgabe, Sie verweigern eine Vermögensteuer. Die Spekulanten, die vor und während der Krise verdient haben, müssen nichts bezahlen. Nein, wir haben ja die Mütter, die Kinder vor 1992 geboren haben; die können das bezahlen. Wir haben Hartz-IV-Empfängerinnen und Hartz-IV-Empfänger; die können das bezahlen; jetzt übrigens   dazu komme ich noch   auch die Opelaner. Das ist nicht nur unsozial. Ich sage Ihnen: Das ist asozial.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Argument des Herrn Schäuble in Bezug auf Griechenland ist auch noch falsch; denn im Süden Europas müssen Strafzinsen von 6 bis 7 Prozent gezahlt werden und in Deutschland von 0 Prozent. Das bedeutet, dass aus diesem Prozess in den letzten drei Jahren Deutschland einen zusätzlichen Gewinn von 60 Milliarden Euro gemacht hat. Warum erwähnen Sie das nicht? Warum verweigern Sie stattdessen den notwendigen Rentenzuschlag für die Mütter, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben? Es ist nicht zu fassen!

(Beifall bei der LINKEN)

Ich frage Sie auch einmal: Wie viel Milliarden müssen eigentlich die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in Deutschland nach wie vor für Banken, Versicherungen und Hedgefonds bezahlen? Nennen Sie doch einmal die Summe! Herr Schäuble, wenn Sie einen Rentenzuschlag für Mütter, die ihre Kinder vor 1992 geboren haben, mit der Begründung ablehnen   ich betone es immer wieder  , dass wir zu viel an Griechenland bezahlen müssen, dann schüren Sie Ressentiments. Das geht überhaupt nicht. Das ist Gift. Das ist Bild-Zeitungs-Niveau!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Man schadet damit natürlich auch dem europäischen Einigungsgedanken.

Jetzt lese ich, dass die Märkte Berlusconi fürchten. Es gibt einen Streit zwischen Monti und Berlusconi. Ich finde dieses Herrengezänk ziemlich langweilig. Aber eines sage ich Ihnen: Die veränderten Haltungen der Bürgerinnen und Bürger in Europa sind entscheidend. Berlusconi versucht, mit Rechtspopulismus die falsche Auflagenpolitik der EU für sich selbst zu nutzen. Er polemisiert logischerweise gegen die Bundesregierung, spricht dann aber nicht von der Bundesregierung, sondern von ganz Deutschland. Das weisen wir zurück. Wir sind auch Deutsche, und wir wollen eine andere Politik.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich hoffe natürlich, dass sich in Italien die Linken durchsetzen werden.
Es betrifft übrigens nicht nur die Bürgerinnen und Bürger Italiens, sondern auch die Portugals, Irlands, Spaniens und vor allem Griechenlands. Wie erfahren die denn gegenwärtig die Europäische Union? Wie erfahren die denn gegenwärtig die Währungsunion? Sie erfahren das Ganze als Instrument zum massiven Abbau sozialer Leistungen, zur Kürzung von Löhnen, von Renten, von Investitionen   und das alles für eine Krise, die sie nicht verursacht haben. Diejenigen, die die Krise verursacht haben, die Spekulanten, werden nicht mit einem halben zusätzlichen Euro herangezogen. Das ist völlig indiskutabel.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich nehme jetzt einmal nur das Beispiel Griechenland, nur die letzten fünf Jahre. Da sind die Griechen ununterbrochen in einer Krise. Es gibt dort einen Rückgang von Löhnen, von Renten und von Wirtschaftsleistung. Herr Fricke, Sie sprechen immer von Wirtschaftsleistung. Ja, wo denn? Die Wirtschaftsleistung ist rückläufig in Italien, in Spanien, in Portugal und in Griechenland. Sie ist um ein Drittel zurückgegangen.

(Zuruf des Abg. Otto Fricke (FDP))

  Nein!   Mit Ihrer Sparpolitik sorgen Sie dafür, dass die Wirtschaftsleistung weiter zurückgeht, weil Sie die Kaufkraft der Bevölkerung reduzieren.

(Otto Fricke (FDP): Genau dasselbe haben Sie bei Hartz IV gesagt!)

Wovon sollen die Leute denn noch etwas erwerben? Die Politik, die Sie hier betreiben, ist doch völlig daneben.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich sage Ihnen: Der Rückgang beträgt ein Drittel, wenn man auch noch die Teuerungsraten und die Steuererhöhungen berücksichtigt.
Schauen wir uns doch einmal die Schulden Griechenlands an! 2008: 110 Prozent der Wirtschaftsleistung.   Wir haben übrigens Schulden von 82 Prozent der Wirtschaftsleistung; nur einmal als Vergleich.   Nunmehr sind die Schulden bei 177 Prozent, und im nächsten Jahr werden sie bei 190 Prozent der Wirtschaftsleistung sein. Das ist das tolle Ergebnis der Griechenland-Politik dieser Koalition   leider auch von Grünen und SPD; denn sie haben ja alles mitgemacht  ; nicht zu fassen!

(Beifall bei der LINKEN)

Deutschland haftet, und Sie, Frau Bundeskanzlerin, sagen wieder: Es wird dauerhaft   jetzt kommt schon das Wort „dauerhaft“ dazu; das heißt: kurzfristig dann doch; ich verstehe das nicht ganz   keine gemeinschaftliche Verschuldung geben. In Wirklichkeit haften wir gemeinschaftlich für 400 Milliarden Euro. Das ist wirklich   entschuldigen Sie!   Unsinn, was Sie hier erzählen. Sagen Sie den Leuten doch einfach einmal die Wahrheit! Das stimmt doch alles nicht mehr.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich füge hinzu: Wenn die Politik für den Süden Europas so weitergeht, dann ist er gar nicht zahlungsfähig. Sie können das Geld einfach abschreiben. Die Länder können es gar nicht zurückbezahlen. Die Steuereinnahmen sind dort rückläufig. Die Wirtschaftsleistung geht zurück. Wovon sollen sie das denn bezahlen? Was Sie hier erzählen, ist doch albern. Warum sagen Sie den Bürgerinnen und Bürgern nicht vor der Bundestagswahl, dass wir mit einer Summe von 400 Milliarden Euro haften und diese höchstwahrscheinlich bezahlt werden muss? Niemand weiß, woher wir das Geld nehmen sollen. Wollen Sie das einfach in einer Maschine drucken, oder was haben Sie diesbezüglich vor?

Ich wette, dass es einen Schuldenschnitt geben wird. Dieser geht zulasten der öffentlichen Forderungen, auch der Forderungen aus Deutschland. Ich weiß, Sie wollen alles tun, damit der Schuldenschnitt erst nach der Bundestagswahl 2013 kommt. Herr Kauder, sagen Sie es doch ehrlich. Der Schuldenschnitt wird kommen: Ende 2013, Anfang 2014. Sie haben die Prozesse in Europa nicht mehr im Griff.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Dass Sie jetzt auch noch Wahrsager sind, ist etwas ganz Neues! - Gegenruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann (DIE LINKE): Was der alles kann!)

Es kann auch schon vorher passieren, lieber Herr Kauder. Dann wird die Bevölkerung auch von Ihnen die Wahrheit erfahren müssen.

(Volker Kauder (CDU/CSU): Jetzt erklärt er sich schon zum Propheten!)

- Nein, nein, prophetisch war ich schon immer. Das ist gar nicht neu, Herr Kauder.
(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN - Lachen bei der CDU/CSU und der SPD - Volker Kauder

(CDU/CSU): Herr Gysi, versündigen Sie sich nicht!)

Sie verstehen nicht, dass wir endlich eine Aufbaupolitik im Süden Europas brauchen. Wir brauchen Steuergerechtigkeit einschließlich einer Vermögensabgabe und einer Vermögensteuer für die Vermögensmillionäre. Wir müssen die Steuerflucht bekämpfen, indem wir die Steuerpflicht wie in den USA an die Staatsbürgerschaft binden. Warum machen wir das nicht?

(Beifall bei der LINKEN)

Ein reicher Deutscher kann doch auf die Seychellen ziehen, aber er soll hier steuerpflichtig bleiben. Das ist das Entscheidende, was wir durchsetzen müssen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das gilt für Griechenland genauso.

Wir müssen uns von den privaten Finanzmärkten abkapseln und sie endlich regulieren. Erklären Sie den Bürgerinnen und Bürgern, wozu wir Schattenbanken, Hedgefonds und Leerverkäufe brauchen. Wir brauchen keine Spekulationen. Wenn diese Spekulationen dann ins Aus führen, dann müssen die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler das Minus bezahlen. Das ist derart ungerecht, dass man darüber gar nicht zu diskutieren braucht.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Verweigerung einer vernünftigen Politik im Süden Europas schadet den Menschen dort, aber auch den Menschen in Deutschland. Ich nenne Ihnen einen Betrag, Herr Brüderle: Die Schattenbanken und Hedgefonds spekulieren gegenwärtig weltweit mit 67 Billionen Dollar. Dieser Betrag entspricht der weltweiten realen Wirtschaftsleistung. Das machen Sie alles mit? Das finden Sie gut? Wer bezahlt das alles, wenn die Banken die Hälfte davon verspekulieren? Nein, Sie müssen endlich den Mut haben, das Ganze zu regulieren.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Bankenaufsicht ist beschlossen worden. Frau Bundeskanzlerin, Sie sind ja stolz darauf, dass sich die Finanzminister darauf geeinigt haben. Die Bankenaufsicht hat uns bei der Pleiten-HRE nichts genutzt. Abgesehen davon geht es um eine ganz andere Frage: Wer bezahlt eine Pleitebank? Das ist nicht geregelt. Da Sie nicht geregelt haben, dass das die Banken zu bezahlen haben, bleibt es dabei, dass die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler dies zu bezahlen haben. Genau das geht nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich erzähle Ihnen folgende Begebenheit: Ich war in einer Fernsehsendung zu Gast. Dort war auch Frau Kohl, die ARD-Korrespondentin bei der Börse. Sie sagte mir: Herr Gysi, wenn Sie Bundeskanzler wären und die Deutsche Bank zu Ihnen käme und sagen würde, in einer Woche müsste sie in Insolvenz gehen, dann wären Sie auch verpflichtet, sie zu retten. Täten Sie das nicht, bräche das ganze Wirtschafts- und Finanzsystem zusammen. - Abgesehen davon, dass meine Phantasie, im Unterschied zu ihrer, nicht ausreicht, sich vorzustellen, dass ich Kanzler werde, würde ich Folgendes hinzufügen: Wenn das stimmt   wahrscheinlich hat sie recht  , dann ist die Deutsche Bank zu mächtig; denn dann hat eine Kanzlerin oder ein Kanzler keinen Spielraum. Wenn die Bank kommt und sagt, dass es so ist und man das machen muss, ist das das Primat der Banken über die Politik. Das müssen wir endlich überwinden. Daher muss man sie verkleinern und vergesellschaften. Es gibt keinen anderen Weg.

(Beifall bei der LINKEN - Zuruf von der FDP)

- Nein, nicht in Landesbanken umwandeln, sondern in öffentlich-rechtliche, wie die Sparkassen. Die funktionieren hervorragend.
Noch etwas zum Rückgang des Exports, weil wir   nicht wir, Entschuldigung, Sie   den Süden Europas erfolgreich ruinieren. Was passiert beim Export? Beim PKW-Export haben wir ein Minus von 18 Prozent beim Export nach Frankreich, ein Minus von 25 Prozent beim Export nach Italien, ein Minus von 36 Prozent beim Export nach Spanien. Opel allein verliert 16 Prozent. Das sind die Zahlen vom September 2012.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Herr Kollege.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Sie wollen sagen, dass meine Redezeit zu Ende ist.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Es gilt leider auch für prophetische Reden, dass die profanen Regelungen unserer Geschäftsordnung gelten.

(Heiterkeit bei der CDU/CSU - Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Ende seiner Rede konnte er nicht voraussehen!)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Sie müssen zugeben, Herr Bundestagspräsident, dass es sehr traurig ist, wie hier herumgeeiert wird.

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Absolut.

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Was glauben Sie, was ich Ihnen alles gerne noch erklärt hätte!

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN)

Na schön, dann lassen wir das bleiben. Dann sage ich Ihnen am Schluss nur noch:

Präsident Dr. Norbert Lammert:
Aber es wird manche Kollegen trösten, dass wir das dann bilateral ausmachen.

(Sigmar Gabriel (SPD): Das ist ein bitteres Schicksal, Herr Präsident!)

Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE):
Gut, das machen wir dann. Aber wissen Sie, ich muss mit so vielen Leuten aus der Union reden. Na ja gut, ich lasse das bleiben.

Lassen Sie mich noch so viel sagen: Die Opelaner sind in der Zange. Falsches Management auf der einen Seite, auf der anderen Seite führt Ihre verheerende Politik im Süden Europas zum Rückgang der Verkaufszahlen, und jetzt sollen Sie das bezahlen. Das sind 3 000 Beschäftigte, und 45 000 weitere Arbeitsplätze hängen daran. Was sagen Sie denen denn außer: „Pech gehabt“? Das reicht wirklich beim besten Willen nicht aus.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Ich sage Ihnen: Wir brauchen kein weiteres Durchwursteln von Krisengipfel zu Krisengipfel, wir brauchen endlich Perspektiven und Visionen. An denen fehlt es bei dieser Bundesregierung.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD))