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Regierung legt keine Strategie zur Nano-Vorsorge vor

Rede von Petra Sitte,

-Rede zu Protokoll-

Meine Damen und Herren,

wie passend: wir diskutieren heute über den Aktionsplan Nanotechnologie 2015 und die EU-Kommission legt nun endlich die längst fällige Definition für Nanostoffe vor. Demnach gilt als Nanomaterial, was zu mehr als 50 Prozent ungebundene Teilchen zwischen 1 und 100 Nanometer (nm) enthält. Das ist relevant für die gesamte Forschungsausrichtung des Aktionsplans. Bezogen auf den Teil „Risiken der Nanotechnologie erkennen“ ist es auch eine ganz wichtige Nachricht für den Verbraucher- und den Umweltschutz. Endlich ist eine Grundlage geschaffen, auf der Informationen über nanohaltige Produkte und Verfahren abgefragt und gesundheitliche und umweltrelevante Prüfungen vorgenommen werden können. Angesichts der inzwischen vorliegenden Befunde der bundeseigenen Ressorteinrichtungen zum Risikopotenzial für Nanoteilchen, sind Vorsichtsmaßnahmen einfach Pflicht. So berichtet das Bundesinstitut für Risikobewertung, dass Kohlenstoff-Nanoröhrchen, die Hoffnungsträger für vielfältige industrielle Nutzungen sind, Krebs auslösen können, und nanoskaliges Silber, das in Sporttextilien eingesetzt wird, Gift für die Umwelt ist. Das boomende Nanosilber wird aber selbst von Spezialkläranlagen nicht herausgefiltert und gelangt aus Produktionsanlagen und Haushalten ungehindert in unsere Gewässer.

Endlich kann also die europäische REACH-Verordnung nanogerecht angepasst werden. Diese Verordnung dient zur Überprüfung aller Chemikalien, die auf den Markt gebracht werden. Doch bislang werden Stoffe, die bereits als größere Partikel geprüft worden sind, nicht gesondert in nanoskaliger Form erfasst, obwohl bekannt ist, dass die kleinere Größe die physikalisch-chemischen Eigenschaften von Stoffen völlig verändern kann. Auch ein von Verbraucherschützern und meiner Fraktion seit langem gefordertes Produktregister für nanohaltige Stoffe, das von jedermann einsehbar ist, hätte nun eine legale Grundlage.

Leider hat die Definition zwei Achillesfersen. Die enge Größenbegrenzung auf 100 nm lässt nur wenig größere Teilchen außen vor, die aber auch Nanoeffekte aufweisen können. Die EU-Kommission hätte hier einen Spielraum für größerskalige Stoffe, für die es Hinweisen auf potenziell gesundheitsgefährdende Eigenschaften gibt, öffnen müssen. So aber wird sie dem Verdacht, Sicherheitsrisiken zugunsten von Unternehmensinteressen unter den Tisch kehren zu wollen, ausgesetzt bleiben. Und wird so ganz bestimmt nicht das Sicherheitsbedürfnis der Verbraucherinnen und Verbraucher befriedigen.

Zum anderen kann man auf der Webseite des Umweltbundesamtes nachlesen, dass über die Freisetzung ursprünglich fest eingebundener Teilchen aus Produkten durch Alterungs- oder Abbauprozesse bisher keine Informationen vorliegen. Auch die Autoren einer gerade erschienenen Studie des Verbandes der Chemischen Industrie zu 10 Jahren Risikobewertung von Nanomaterialien sagen, dass enormer Forschungsbedarf für Langzeitprüfungen besteht. So fehlen Daten selbst für vergleichsweise einfache Fragen, wie folgende: Bringen Nanoteilchen, die sich mit der Zeit aus Hauswandfarben herauslösen, relevante Belastungen für die Umwelt mit sich?

Damit will ich deutlich machen, dass die Bundesregierung nicht der gebotenen Sorgfaltspflicht nachkommen wird, wenn sie lediglich auf die Verordnungskompetenz der EU-Ebene verweist. Bis die Definition in geltendes Recht umgesetzt wird, wird noch einige Zeit vergehen. Bis dahin sollte als absolutes Mindestmaß an Vorsorge eine Kennzeichnungspflicht für nanohaltige Produkte eingeführt werden. Das hat kürzlich auch das Sondergutachten des Sachverständigenrates für Umweltfragen nachdrücklich empfohlen. Dieses Instrument sehen wir nur als Untergrenze für die notwendige Vorsorge an. Der unsichere Verbraucher hätte damit nur – aber immerhin - die Wahl, sich im Zweifel gegen ein Nanoprodukt zu entscheiden. Ob die Nanoteilchen schädigend sind oder nicht, sagt die Kennzeichnung ja nicht aus. Da, wo es deutliche Hinweise auf Gefährdungspotenziale, wie beim Nanosilber oder auch Titandioxid gibt, muss die Bundesregierung von Moratorien Gebrauch machen, bis die Gefährdung nicht eindeutig ausgeräumt werden kann. Und schließlich brauchen wir ein Produktregister, damit Behörden bei Gefährdungshinweisen reagieren können.

Bislang verfolgt die Bundesregierung aber im besten Fall das Prinzip der Nachsorge. Sie kehrt in ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage vom Mai 2011 die Beweislast immer um und will erst bei eindeutig bewiesener Gefährdung handeln. Ich meine: Das ist unterlassene Vorsorge!

DIE LINKE hat bereits in mehreren Anträgen einen höheren Anteil der Risikoforschung aus dem jährlichen Fördertopf von 200 Mio. Euro eingefordert. Wie dramatisch schlecht es um unser Wissen bestellt ist, zeigt gerade eine Studie zur Wirksamkeit von invitro-Tests der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin. „Invitro“ bedeutet, dass nicht am lebendigen Organismus, sondern an Zellkulturen in der Petrischale geforscht wird. Im heute behandelten Aktionsplan Nano 2015 heißt es, dass die meisten der bisher durchgeführten Untersuchungen sich auf zelluläre Studien mit kurzen Zeitverlauf stützen. Immerhin sollen deshalb zukünftig Langzeitstudien in Geweben durchgeführt werden. Die Metastudie der Bundesanstalt für Arbeitsschutz zeigt aber, dass die zellulären Tests keine Aussagekraft haben. Viele der wenigen gewonnenen Erkenntnisse über Nanomaterialien sind also auf Sand gebaut!

Ich nehme zur Kenntnis, dass Sie mit dem Aktionsplan 2015 gewisse gesellschaftliche Anforderungen umsetzen, an denen es zuvor fehlte: Sie betonen die Risikoforschung und den Arbeitsschutz und wollen eine stärkere Konzentration der Förderung auf Einsatzfelder mit echtem Mehrwert wie Klimaschutz oder Energieeffizienz. Ich freue mich, dass die Koalitionsfraktionen in ihrem Antrag dafür einen „kurzfristigen Förderschub“ fordern, um redliche Forschungsaktivitäten zu ermöglichen. Doch all das entlastet Sie nicht, vorläufige oder dauerhafte Regelungen einzuführen, welche die inzwischen bekannt gewordenen Risiken minimieren. Darauf geht der Koalitionsantrag jedoch mit keiner Silbe ein. Deshalb kann meine Fraktion ihn nicht unterstützen.