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Rede von Ralph Lenkert am 20.10.2016

Rede von Ralph Lenkert,

In Deutschland besteht ein Spannungsfeld zwischen dem Schutz der Bevölkerung und der Standorterhaltung bestimmter Industrieparks. Durch die konsequente Umsetzung der Seveso-III-Richtlinie und die Erwägungen, die ihr vorangehen, kommt es zu Interessenkonflikten zwischen dem Schutzbedürfnis der Bevölkerung und dem Investitions- und Profitinteresse der Industrie. An den heutigen Konflikten tragen jedoch neben der Industrie auch Regionalverwaltungen und Länder einen großen Anteil der Mitschuld.

Vielerorts ist zu beobachten, dass einstmals außerhalb von Ortschaften errichtete Industrieparks schleichend, über Jahrzehnte erfolgend, heute von Wohnbebauung umgeben sind. Diese Konflikte zwischen Bedürfnissen der Industrie und Schutzbedürfnissen der Anwohner hätte man sich ersparen können, wenn man von vornherein ein ausreichend straffes Regelwerk im Rahmen des Bundes-Immissionsschutzgesetzes gehabt hätte und nicht erst auf entsprechende Vorgaben der EU gewartet hätte, man also Städtebauplanung mit etwas mehr Nachhaltigkeit und Weitsicht betrieben hätte. Nun wird die Bundesregierung per Verordnung festlegen müssen, inwieweit heutige Abstandskonflikte zu neuen Genehmigungsverfahren führen oder eben auch nicht.

Die Linke warnt davor, die Interessen des Investitionsschutzes über das Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung zu stellen und sei es nur in Einzelfällen. Im Katastrophenfall wäre eine zu lapidare Interpretation des Gesetzes fatal. Die Seveso-III-Richtlinie gibt den Mitgliedstaaten vor, dass bei Verstößen gegen die Berichtspflichten durch die Betreiber oder gar bei Betrieb trotz fehlender Genehmigung oder anderweitigen Verstößen gegen das Gesetzeswerk „Sanktionen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein müssen“.

Was fordert die Koalition in diesem Gesetzentwurf? Dass die Behörde die „Stilllegung der Anlage anordnen kann“ und die Beseitigung solcher, damit eigentlich illegal betriebener Anlagen nur anordnen „soll“, wenn „die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft zum Beispiel vor Chlorgas nicht ausreichend geschützt werden kann“. Es geht um Gesundheit und Leben. Hier hätte sich die Linke darum Konkretheit gewünscht, die den Behörden die strikte Anwendung des Gesetzes auch rechtssicher ermöglicht. Durch derartige Soll- und Kannphrasen baut die Koalition Hintertürchen in das Gesetz, die zu Missbrauch führen können.

Positiv ist jede Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und vor allem die Zulassung des Verbandsklagerechts im Genehmigungsverfahren, wenn Betriebe ihre Anlagen erweitern oder neue bauen wollen. Leider – das ist symptomatisch für das deutsche Öffentlichkeitsbeteiligungsrecht – werden die Sorgen und Nöte direkt Betroffener erneut nicht rechtsverbindlich in den Genehmigungsverfahren berücksichtigt. Zwar dürfen Betroffene Stellungnahmen an die Behörden übermitteln. Inwieweit die Behörde diese Stellungnahmen aber berücksichtigt, bleibt ihr überlassen. Die Linke fordert deshalb bereits seit Jahren, das Recht der Öffentlichkeitsbeteiligung zu reformieren und der Öffentlichkeit verbindlich mehr Kompetenz zu übertragen. Wohin es führt, wenn man an der Öffentlichkeit vorbei agiert, können wir in Gorleben sehen, wo in einem Salzstock zwar kein Atommüll, dafür aber Milliarden Euro versenkt wurden.

Die gesamte Katastrophenvorsorge versagt, wenn das Potenzial einer Katastrophe im Ereignisfall nicht bekannt ist. Die Vorsorge der Seveso-Richtlinien reicht richtigerweise soweit, dass nicht nur Betriebe, die mit gefährlichen Stoffen hantieren, reglementiert werden, sondern auch Betriebe mit Stoffen, die erst im Havariefall gefährlich werden. Damit geht die Richtlinie dem Risikomanagement des europäischen Chemikalienrechts weit voraus, was ich sehr begrüße, und mir für eine Novelle der Chemikalienrichtlinie auch wünsche. Bisher kommt nämlich bei der Risikobewertung nach REACH-Chemikalienverordnung nur die Gefährlichkeit des Stoffes an sich zum Tragen. Die Gefährlichkeit seiner Reaktionsprodukte wird nicht untersucht. Ein Beispiel, wo dies relevant werden kann, ist der Umgang mit dem neuen Kältemittel R1234yf in Pkw-Klimaanlagen. Im Brandfall entwickelt sich daraus unter anderem Carbonyldifluorid, ein dem Kampfgas Carbonyldichlorid, als Phosgen bekannt, ähnlicher Stoff.

Die Risikobewertung ist – abgesehen davon, dass sie für das Kältemittel noch gar nicht vorliegt – immer unvollständig. Die Risikobewertung erfolgt nicht auf Basis unabhängiger Forschungsergebnisse. Die Bewertung wird zu großen Teilen ausgerechnet von der Industrie erbracht, die die Stoffe einsetzen will. Die Wirkung der Seveso-III-Richtlinie wird also von einem unzureichenden Chemikalienrecht untergraben. Deshalb, zum Schutz vor den Auswirkungen von Katastrophen mit gefährlichen Chemikalien, fordert die Linke daher eine grundlegende Qualifizierung des europäischen Chemikalienrechts.

Trotzdem lässt sich zusammenfassend sagen, dass mit der Seveso-III-Richtlinie von der EU ein richtiger Schritt gemacht wird. Aber dieser ist, auch wegen der Bundesregierung, leider unvollständig.