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Rede von Azize Tank zu Protokoll gegeben am 19.01.2017

Rede von Azize Tank,

Die Verwirklichung sozialer Menschenrechte ist eine unabdingbare Voraussetzung für ein würdevolles Leben in einer sozial gerechten Gesellschaft. Soziale Menschenrechte sind nicht etwa Almosen an Bedürftige, sondern völkerrechtlich verbriefte Menschenrechte, die jedem Menschen zustehen. Dazu gehören unter anderem das Recht auf Arbeit, gerechte und günstige Arbeitsbedingungen, angemessene Entlohnung, soziale Sicherheit, das Recht auf einen angemessenen Lebensstandard, ein Höchstmaß an geistiger und körperlicher Gesundheit, das Recht auf Bildung sowie Teilhabe am kulturellen Leben.

Soziale, wirtschaftliche und kulturelle Menschenrechte, oder kurz soziale Menschenrechte, sind im UN-Sozialpakt, der Europäischen Sozialcharta, der EU-Grundrechtecharta sowie zahlreichen weiteren völkerrechtlich verbindlichen Abkommen geregelt.

Menschenrechte gelten universell; sie sind gleichwertig und unteilbar. Dennoch sind die sozialen Menschenrechte immer noch nicht gleichberechtigt – wie die bürgerlichen und politischen Rechte – im Grundgesetz verankert. Damit können sie auch nicht mit einer Verfassungsbeschwerde eingeklagt werden. Dies will die Fraktion Die Linke ändern. Der vorliegende Gesetzesentwurf zur Aufnahme sozialer Grundrechte ins Grundgesetz soll eine Lücke schließen, die seit dessen Verkündung im Grundgesetz klafft. Diese Lücke rührt vor allem aus den historischen Umständen, in denen das Grundgesetz nach den verheerenden Erfahrungen der Nazizeit entstanden ist. Damals standen die Rückkehr zum Rechtsstaat und die Gewährleistung elementarer politischer Grundrechte im Vordergrund.

Heute steht aber die soziale Frage im Mittepunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Soziale Ungleichheit führt zu Spaltungen in der Bundesrepublik und gefährdet den gesellschaftlichen Frieden.

Schon mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde international anerkannt, dass soziale Menschenrechte gleichrangig mit bürgerlichen und politischen Menschenrechten sind. Sie müssen also auch zusammen gedacht und gleichberechtigt verwirklicht werden. Denn die beiden Dimensionen der Menschenrechte, also die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen und die bürgerlichen und politischen Rechte, sind nicht gegensätzlich, sondern bedingen einander. So gibt es zum Beispiel kein soziales Recht auf Gesundheit ohne das politische Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Die Verwirklichung sozialer Menschenrechte ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Sie betrifft jeden Menschen. Wir brauchen schließlich nicht selbst krank zu sein, um ein Grundrecht auf Zugang zu Gesundheit zu verteidigen. So wie wir auch nicht erst in einer Diktatur leben müssen, um die Bedeutung des allgemeinen Wahlrechts zu erkennen.

Die sozialen Grundrechte dienen der gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe in allen Lebenslagen und der Freiheit des Menschen vor und von gesellschaftlichen Zwängen. Sie sind somit tragende Säulen eines modernen Sozialstaates.

Das Grundgesetz definiert die Bundesrepublik Deutschland als sozialen Rechtsstaat. Der vorliegende Gesetzesentwurf zielt auf die Konkretisierung der Verpflichtung zur Sozialstaatlichkeit ab. Dies ist angesichts der sozialen Verwerfungen und Gefahren für den demokratischen Zusammenhalt unserer Gesellschaft heute dringend geboten und wichtiger denn je.

Die Verankerung sozialer Grundrechte im Grundgesetz ist nicht zuletzt auch eine Konsequenz bereits bestehender Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. In diesem Zusammenhang ist insbesondere die sogenannte „Hartz-IV“-Entscheidung von 2010 zu nennen, in der das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum für alle in Deutschland lebenden Menschen feststellt.

Strukturelle Schwächen des Sozialstaatsprinzips können jedoch nicht allein von den Gerichten korrigiert werden. Vielmehr müssen soziale Grundrechte sichtbar ins Grundgesetz als individuelle Grundrechte aufgenommen werden.

Soziale Menschenrechte werden in der Bundesrepublik vielfach missachtet. Der UN-Sozialausschuss, der für die Überwachung des UN-Sozialpaktes verantwortlich ist, kritisiert die Bundesrepublik seit Jahren, insbesondere im Hinblick auf Diskriminierungen beim Zugang zu Bildung und zum Arbeitsmarkt. Die Bundesregierung verweigert bis heute die Unterzeichnung des Fakultativ­protokolls zum UN-Sozialpakt und die Ratifizierung der revidierten Europäischen Sozialcharta. Dadurch sind Individualbeschwerdeverfahren bei Vertragsverletzungen ausgeschlossen.

Löhne und Sozialleistungen reichen zudem häufig nicht aus, um ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Selbst in einem der reichsten Länder der Welt ist nahezu jedes fünfte Kind von Armut bedroht oder arm.

Armutsbekämpfung und der Schutz sozialer Menschenrechte sind eng miteinander verknüpft. Denn eine konsequente Armutsbekämpfung hebt nicht nur auf die Beseitigung wirtschaftlicher Mängelzustände ab, sondern bezieht die Menschen als handelnde Akteure und individuelle Rechtsträger ein.

Im Rahmen eines Fachgesprächs der Linken im März 2016 und einer internationalen Fachkonferenz im Oktober 2016 haben wir zusammen mit Wissenschaftlerinnen und Wirtschaftlern, sozialen Verbänden und der Zivilgesellschaft die Notwendigkeit der Verankerung sozialer Menschenrechte im Grundgesetz sowie die konkrete Ausgestaltung unseres Gesetzesentwurfs konsultiert und erörtert. Viele wichtige Ergänzungswünsche haben wir in diesen Gesetzesentwurf aufgenommen. Dafür möchte ich ausdrücklich allen beteiligten Expertinnen und Experten und gesellschaftspolitischen Aktivistinnen und Aktivisten danken.

Wenn wir unser Grundgesetz zukunftssicher gestalten wollen, müssen wir endlich auch soziale Grundrechte – wie bereits die bürgerlichen und politischen Rechte – darin aufnehmen.