Zum Hauptinhalt springen

Rechtsanspruch auf Pflegezeit gilt wieder einmal nur für Besserverdienende

Rede von Jörn Wunderlich,

67. Sitzung des Deutschen Bundestages am 14. November, TOP 22

Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf

Jörn Wunderlich (DIE LINKE):

Frau Präsidentin! Frau Ministerin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! „Entwurf eines Gesetzes zur besseren Vereinbarkeit von Familie, Pflege und Beruf“ - man liest den Titel des vorliegenden Gesetzentwurfs und denkt, ein Quantensprung vollzieht sich. In der letzten Legislaturperiode haben wir noch von der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gesprochen. Jetzt haben wir die Pflege in die Vereinbarkeit aufgenommen - denkt man im ersten Moment. Zu einigem hat meine Kollegin Zimmermann hier schon ausgeführt. Ich möchte noch auf einen Punkt eingehen, der aus Sicht der Linken ein ganz wesentlicher ist.

Aus den Erfahrungen mit dem verfehlten Pflegezeitgesetz von Frau Schröder - wir haben es schon gehört; es ist nicht in Anspruch genommen worden; die Zahlen sind hier genannt worden - hat man nun den Rechtsanspruch auf Pflegezeit entwickelt. Dieser Rechtsanspruch, der die Möglichkeit, eine Pflegezeit zu nehmen, nicht mehr vom Willen des Arbeitgebers abhängig macht, ist zwar ein guter Schritt; andererseits werden dabei 5,6 Millionen Beschäftigte außen vor gelassen.

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes vom 31. Mai 2014 - diese Angaben sind also noch kein halbes Jahr alt - sind 5,6 Millionen Menschen in Betrieben mit 15 oder weniger als 15 Mitarbeitern beschäftigt. Sie alle haben durch die im Gesetzentwurf verankerte Kleinbetriebsklausel eben keinen Anspruch auf Pflegezeit. Als Alternative bleibt ihnen dann nur, das Beschäftigungsverhältnis aufzugeben, wenn die Pflege nicht anders sichergestellt werden kann.

Von der ambulanten Pflege haben wir schon gehört. Viele wollen zu Hause gepflegt werden, möchten also in ihrem häuslichen Umfeld bleiben. Dieser Wunsch sollte auch respektiert werden. Dies kann natürlich auch mit professioneller Pflege sichergestellt werden. Nur, wer kann sie sich leisten? Das sind die wenigsten. Die Menschen, die ihren Arbeitsplatz aufgeben müssen, um eine andere Person zu pflegen, kommen ebenfalls ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe nach, müssen dafür aber weit stärkere Einschränkungen hinnehmen als diejenigen, die von dem Gesetz profitieren.

Bei den 5,6 Millionen Betroffenen sind noch nicht die erfasst, die in Teilzeit arbeiten. Bei den geringfügig Beschäftigten handelt es sich um weitere 5 Millionen. Der überwiegende Teil davon arbeitet in kleinen Betrieben. Daher muss man noch draufsatteln. Da liegen mir noch keine genauen Zahlen vor.

Die vorgeschlagene Kombination von Pflegezeit und Familienpflegezeit läuft darauf hinaus, dass nach Ablauf der Pflegezeit von höchstens sechs Monaten als Voraussetzung für eine Inanspruchnahme der Familienpflegezeit die Wochenarbeitszeit im Betrieb mindestens 15 Stunden betragen muss. Damit sind wir wieder bei der magischen Zahl 15: 15 Stunden, 15 Beschäftigte. Wenn aber die Pflegesituation dies nicht zulässt oder die Arbeitsbedingungen nicht entsprechend gegeben sind, sind möglicherweise die Voraussetzungen für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gar nicht da; dann entfällt der Anspruch. Andererseits können auch die Bedingungen für das Darlehen als vorrangige Leistung nicht erfüllt werden. Es bricht also im Grunde alles zusammen. Anders ausgedrückt, die Kopplung des Anspruchs auf Familienpflegezeit an die Voraussetzung der wöchentlichen Restarbeitszeit von 15 Stunden hat offensichtlich nur die berufstätigen, gutbezahlten Vollzeitbeschäftigten im Blick. Ziel ist, deren Ausstieg aus dem Berufsleben - es hieß ja auch: nicht auf die Fachkräfte verzichten - zu verhindern. Teilzeitbeschäftigte mit geringer Stundenzahl sind im Grunde von der Inanspruchnahme der Familienpflegezeit und damit auch des Darlehens ausgeschlossen, und das, obwohl das Darlehen, wie es so schön heißt, vorrangig vor Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen ist. Im Baugewerbe und Gaststättengewerbe ist nahezu jeder zweite Beschäftigte von den Segnungen der Familienpflegezeit ausgeschlossen, im Handel immerhin jeder vierte.

Außerdem - das ist hier auch schon angeklungen - vermisse ich in dem Gesetzentwurf Anreize, die sich auf die Geschlechtergerechtigkeit beziehen.

                                      (Beifall bei der LINKEN)

Nach Angaben des DGB sind 75 Prozent der Pflegenden weiblich. Ich glaube nicht, dass der Gesetzentwurf, jedenfalls in der Form, wie er momentan vorliegt, im Hinblick auf geschlechtergerechte Inanspruchnahme der Pflegezeiten irgendetwas bewirkt. Aber ich hoffe erneut auf die Ausschussberatungen und die Ausschusssitzungen. Irgendwann muss sich doch einmal etwas zum Positiven ändern. Und, wie wir alle wissen: Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Danke für die Aufmerksamkeit.

                                      (Beifall bei der LINKEN)