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Pflege tatsächlich neu ausrichten

Rede von Kathrin Senger-Schäfer,

Plenarrede anlässlich der Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten "Entwurfs eines Gesetzes zur Neuausrichtung der Pflegeversicherung" und des Antrags der Abgeordneten Kathrin Senger- Schäfer, Diana Golze, Dr. Martina Bunge und weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE. "Pflege tatsächlich neu ausrichten – ein Leben in Würde ermöglichen" > Drucksache 17/9393

Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE):

Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Gute Pflege ist ein Menschenrecht.

Für die Linke steht fest: Eine diskriminierungsfreie, menschenwürdige Pflege ist für alle Menschen zu sichern.

(Beifall bei der LINKEN)

Das Haus der Pflege - Sie bemühten diesen Begriff vorhin so trefflich - ist morsch und droht einzustürzen.

Die Angehörigen und die zu Pflegenden drohen unter den Trümmern begraben zu werden. Das ist die Wahrheit. Das ist das, was Sie mit Ihrem Gesetz anrichten.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine tatsächliche Neuausrichtung der Pflegeversicherung ist längst überfällig.

Alle unmittelbar Betroffenen, also die Angehörigen und die Beschäftigten der Pflegeberufe, müssen Berücksichtigung finden. Niemand darf Nachteile erleiden.

Die Politik hat die Rahmenbedingungen für eine Neuausrichtung der Pflegeversicherung zu setzen, ohne Wenn und Aber.

(Beifall bei der LINKEN)

Seit Jahren besteht Konsens, dass es dringenden Handlungsbedarf gibt; das haben, wie ich glaube, mittlerweile alle begriffen.

Trotzdem ist der große Wurf bisher nicht gelungen.

Die gesetzgeberischen Maßnahmen der vergangenen Jahre ändern nichts an der Tatsache, dass es nach wie vor gravierende Missstände gibt.

Wir haben ja schon öfter vom dritten Pflegebericht des Medizinischen Dienstes gehört, dem zu entnehmen ist, dass bei sagenhaften 40,7 Prozent der Pflegebedürftigen, bei denen das Risiko des Wundliegens besteht, Versäumnisse bei der Vorbeugung festgestellt wurden. Das ist ein Skandal.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN))

Weil aufgrund von zu wenig Pflegepersonal gerade bei Menschen mit Demenz zu wenig Zeit für die Betreuung vorhanden ist, bleibt oft nichts anderes übrig, als diese Menschen mit Medikamenten ruhigzustellen.

Das ist medikamentöse Freiheitsberaubung.

(Beifall bei der LINKEN)

Im Klartext gesprochen:

Pflegenotstand, Fachkräftemangel und Unterfinanzierung gipfeln in unhaltbaren Zuständen.

Diese Zustände schreien geradezu nach Veränderung und nicht nach Beschönigung.

Wir brauchen Strukturen, welche die bedarfsgerechte Versorgung von älteren Menschen und jüngeren pflegebedürftigen Menschen sicherstellen und gleichzeitig vor Armutsrisiken, Überforderung und Überlastung des Umfeldes schützen.

Eines steht für die Linksfraktion fest: Um dem Menschenrecht auf gute Pflege gerecht zu werden, sind Selbstbestimmung und Teilhabe zu ermöglichen.

(Beifall bei der LINKEN)

Die Minutenpflege muss beendet und eine neue Bedarfsermittlung geschaffen werden.

Dafür steht der neue Pflegebegriff.

Auch wenn es immer wieder anders dargestellt wurde: Dieser liegt nun -  man kann es kaum glauben - seit gut drei Jahren vor.

Obwohl es zu Beginn des Jahres 2011 ein großspuriges Bekenntnis zum Jahr der Pflege aus dem Munde von Herrn Rösler gab, schafft es Herr Minister Bahr bis heute nicht, eine politische Entscheidung zur Umsetzung des neuen Pflegebegriffs zu fällen.

(Beifall der Abg. Agnes Alpers (DIE LINKE))

In der Systematik bleibt im Grunde alles, wie es ist. Es werden nur Stockwerke aufgebaut, wie wir gehört haben, auch wenn behauptet wird, dass ein paar hundert Euro ein Vorgriff auf den neuen Pflegebegriff seien.

Wäre dem so, dann wäre es doch auch möglich gewesen, sich mit einem neuen finanziellen Rahmen auf die Umsetzung des neuen Pflegebegriffs festzulegen.

(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Elke Ferner (SPD))

Aber eine Entscheidung im Rahmen des Pflege-Neuausrichtungs-Gesetzes scheut der Herr Minister wie der Neoliberalismus das Urteil von Ratingagenturen.

Ich sage: Das Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz der schwarz-gelben Bundesregierung verdient schlicht seinen Namen nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Bei allem Respekt vor den Verbesserungen, die die Pflegeversicherung mit sich gebracht hat:

(Daniel Bahr, Bundesminister: Aha!)

Der Geburtsfehler der Pflegeversicherung liegt ja gerade darin begründet, dass Menschen mit Demenz von Anfang an ausgeklammert wurden, da sich der Fokus allein auf den somatischen Bereich gerichtet hat, und zwar - das ist der eigentliche Skandal -  aus Kostengründen.

Das Gebot der Stunde ist ein fundamentaler Wandel.

Die Zeit der Flickschusterei muss in der Pflege ein für allemal vorbei sein.

(Beifall bei der LINKEN)

Dafür setzt sich die Linke mit dem heute vorliegenden Antrag „Pflege tatsächlich neu ausrichten - ein Leben in Würde ermöglichen“ ein.

Ich kann es nicht oft genug betonen: Es gilt, endlich den neuen Pflegebegriff umzusetzen.

Dafür gibt es gute Gründe:

Der derzeitige Pflegebegriff ist pflegewissenschaftlich nicht mehr vertretbar, und der veraltete Pflegebegriff ist schlicht ungerecht.

Ich möchte Ihnen auch sagen, warum:

Wenn ein Mensch aufgrund eines Schlaganfalls körperlich nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu waschen, dann gilt er als Pflegefall.

Aber die Situation, dass beispielsweise meine Nachbarin aufgrund ihrer Demenz hilflos und verwirrt mitten in Berlin auf einer Straßenkreuzung steht und nicht mehr weiß, wie sie wieder nach Hause kommt, ist unter Umständen lebensgefährlich, wird allerdings bis heute in der Pflegeversicherung nicht ausreichend berücksichtigt. Genau das müssen wir ändern.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Wird doch gemacht!)

Unfähigkeit oder aber eine bloße Hinhaltetaktik hilft den Betroffenen nicht.

Noch ein Wort zur Finanzierung: Über Monate hinweg eierte die Koalition in Sachen verpflichtende kapitalgedeckte Pflegezusatzversicherung herum, weil das FDP-geführte Gesundheitsministerium offenbar ein Problem hat:

Einerseits soll die Versicherungsindustrie ihr liberales Zubrot bekommen, andererseits scheint der christlich-demokratische Koalitionspartner, hier insbesondere der bayerische Ableger, zu ahnen, dass ein solch ungerechtes, unsoziales und zudem unsicheres Finanzierungsmodell bei den Menschen nicht ankommt.

Anstatt die Finanzierung endlich auf eine solide und gerechte Grundlage zu stellen und das nicht mehr zeitgemäße und ungerechte Nebeneinander von sozialer und privater Pflegeversicherung zu beenden, fällt Ihnen nichts Besseres als eine Beitragserhöhung und eine Aussicht auf eine Riester-Rente ein.

(Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Versicherung!)

Über Riester-Renten haben wir in der Vergangenheit ja genug gehört. Es bleibt zu befürchten, dass diese Riester-Pflege am Ende doch nur die Versicherungswirtschaft pflegt.

(Beifall bei der LINKEN Wolfgang Zöller (CDU/CSU): Das hilft den Pflegebedürftigen sehr!)

Auch für die Beschäftigten in den Pflegeberufen sind keine Verbesserungen in Aussicht gestellt. Vielmehr wird mit der Aushebelung der ortsüblichen Vergütung dem Lohndumping auch noch Vorschub geleistet.

Das bringt für mich das Fass zum Überlaufen.

Besinnen Sie sich doch auf das, was uns die Menschenwürde vorgibt, und orientieren Sie sich am heute vorliegenden Antrag der Linken!

Richten Sie die Pflege tatsächlich an den Bedürfnissen der Menschen aus!

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)