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Petra Pau: Doppeltes Staatsversagen

Rede von Petra Pau,

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Der nunmehr zweite Untersuchungsausschuss des Bundestages zum NSU-Nazimordkomplex beendet seine Arbeit – mitnichten, weil etwa alle Fragen beantwortet wären. Im Gegenteil: Zentrale Fragen bleiben offen. Aber mit der 18. Legislatur des Bundestages endet eben auch der Untersuchungsauftrag zum NSU-Komplex.

Der Abschlussbericht liegt vor. Das Gros wird von allen Fraktionen getragen. Zudem gibt es abweichende oder weiter gehende Voten. Sie gehören mit zum Bericht.

Wie bereits im ersten Untersuchungsausschuss war die Arbeit durch sachliche Zusammenarbeit, von der CDU/CSU bis zur Linken, geprägt.

(Beifall im ganzen Hause)

Das verlangt unser Respekt vor den Opfern des NSU und ihren Angehörigen, aber auch die Dimension dieses Verbrechens. So konnten wir trotz aller Blockaden doch etwas mehr Licht in den finsteren NSU-Komplex bringen und Puzzlestücke finden.

Ich komme nun zu den wesentlichen Ergebnissen der Untersuchungen und möchte drei nennen:

Erstens. Es hat sich erhärtet, was sich bereits nach dem ersten Untersuchungsausschuss abzeichnete: Das NSU-Kerntrio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe war von circa 40 V‑Leuten der Ämter für Verfassungsschutz regelrecht umzingelt. Wider andere Behauptungen hatte dabei eben auch das Bundesamt für Verfassungsschutz gekaufte Nazis in seinen Diensten, die am Netzwerk des NSU dran waren. Dazu gehörte zum Beispiel ein gewisser Ralf M., alias V‑Mann „Primus“. Er hatte nachweislich Kontakt zum NSU-Trio. Das Bundesamt für Verfassungsschutz versuchte, den Untersuchungsausschuss darüber zu täuschen. Das war symptomatisch.

Zweitens. Den Ämtern für Verfassungsschutz lagen zahlreiche Informationen über den Verbleib und über Vorhaben des NSU-Kerntrios vor. Sie wurden nie an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben. So wurde verhindert, dass Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe gefasst wurden. Damals und noch immer gilt: Der Schutz der Quellen, also der V‑Leute, geht vor polizeiliche Ermittlungen – und das selbst bei einer Mordserie.

Ich merke an: Diese fatale Geheimdienstlogik wird vom Bundesinnenminister und ebenso von der Generalbundesanwaltschaft geteilt. Das heißt, sie sind beide Teil des Problems.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Drittens. Bekanntlich wurden im Bundesamt für Verfassungsschutz – und nicht nur dort – im großen Stil Akten vernichtet. „Aus Versehen“, „aus Datenschutzgründen“, „aus Überlastung“, hieß es noch am Ende des ersten Untersuchungsausschusses. Das war forsch gelogen. Inzwischen ist klar: Dies geschah mit Vorsatz, damit diese Unterlagen weder der Polizei noch den Parlamenten bekannt werden und damit nicht bekannt wird, wie sehr neonazistische Strukturen durch V‑Leute der Ämter für Verfassungsschutz durchdrungen sind. Diese Aktenvernichtungen waren Straftaten. Geahndet wurden sie bis heute nicht.

Nun noch einmal zu den V‑Leuten. Der Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz nannte sie einmal unverzichtbare „Schmutzfüße“. Man brauche sie, um der Naziszene Herr zu werden, so Herr Maaßen.

Ich fasse unsere Erkenntnisse aus dem NSU-Komplex zusammen:

Zu keiner Zeit hatte der Verfassungsschutz die Nazi­szene im Griff, geschweige denn zerschlagen. Im Gegenteil: Mit ihrer Geheimhaltungs- und V‑Leute-Praxis haben die Ämter für Verfassungsschutz die Nazistrukturen vielmehr gedeckt und gestärkt.

Damit komme ich zu den weiter gehenden Schlussfolgerungen der Linken. Es sind insgesamt acht; ich reiße fünf davon kurz an:

Erstens. Die Linke bleibt bei ihrer Forderung, die V‑Leute-Praxis aller Sicherheitsbehörden sofort zu beenden

(Beifall bei der LINKEN)

und den Verfassungsschutz als Geheimdienst aufzulösen.

(Beifall bei der LINKEN)

Das dazu vorgeschlagene Alternativmodell einer Koordinierungsstelle zur Dokumentierung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit ist Bestandteil unseres Votums.

Zweitens. Wir empfehlen der 19. Legislatur des Bundestages einen Untersuchungsausschuss „Rechtsterrorismus und Geheimdienste“. Dabei geht es eben nicht nur um die offenen Fragen aus dem NSU-Komplex, sondern um weitere aktuelle und auch zurückliegende ungeklärte Fälle. Ich nenne hier nur das Oktoberfestattentat und den Doppelmord an dem jüdischen Verlegerpaar ­Schlomo Lewin und Frida Poeschke – beides im Jahr 1980. Zu untersuchen wären aber auch aktuelle neonazistische Terrorakte, zum Beispiel im Freistaat Sachsen, aber auch anderswo.

Drittens. Wir empfehlen der kommenden Linksfraktion weiterhin, die Einrichtung einer Enquete-Kommission „Rassismus“ im Bundestag zu beantragen. Wir brauchen mehr Sachverstand, um Strategien gegen den gesellschaftlichen und den institutionellen Rassismus voranzutreiben.

Viertens. Gesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus und Rassismus, für Demokratie und Toleranz benötigen endlich eine ausreichende, verlässliche und längerfristige Förderung.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Fünftens. Wir fordern mehr Opferschutz und die Einführung einer Amtshaftung im Fall von gewalttätigen V‑Leuten. Straftaten von V‑Leuten werden häufig gedeckt, während deren Opfer alleingelassen werden. Deshalb will die Linke, dass Opfer derartiger Gewalttaten künftig von Amts wegen entschädigt werden.

(Beifall bei der LINKEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ein Abschlussgedanke. Der Rechtsstaat hat seine Bürgerinnen und Bürger vor schweren Straftaten – allemal vor Mord – zu schützen. Gelingt ihm das nicht – aus welchen Gründen auch immer –, so hat er alle Umstände aufzuklären sowie Täter und Mittäter zu belangen. Im NSU-Komplex hat er weder die Mord- und Anschlagserie verhindert, noch sind bisher alle Hintergründe aufgeklärt. Wir haben es hier also mit einem doppelten Versagen zu tun. „Staatsversagen“ haben wir es am Ende des ersten Untersuchungsausschusses genannt. Ich würde sagen, wir haben es hier auch mit einer doppelten Staatsverantwortung zu tun, der wir uns weiter stellen sollten.

Ich danke am Ende dieses Untersuchungsausschusses allen Kolleginnen und Kollegen, die gemeinsam an diesem Komplex gearbeitet haben, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Fraktionen und des Ausschusssekretariats sowie allen, die mitgetan haben, diese Puzzle­stücke zusammenzutragen. Ich verspreche Ihnen: Ich bleibe dran.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)