Zum Hauptinhalt springen

Patientenverfügung gesetzlich verankern

Rede von Lukrezia Jochimsen,

Rede in der Orientierungsdebatte des Bundestags zur Problematik 'Patientenverfügung', gehalten im Plenum des Bundestags am 29.3.2007

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Endlich findet diese Debatte statt. Endlich holen wir das große Thema „Tod und Sterben“ vom verdrängten Rand in die Mitte unseres politischen Denkens und Handelns.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

In alten Texten finden wir immer wieder den Satz: Er fühlte seinen Tod nahen, rief die Seinen zusammen, regelte die weltlichen Dinge und nahm Abschied. - Wie viel Würde enthält diese Beschreibung! Diese Würde haben wir in unserer den Tod und das Sterben aus dem Bewusstsein verdrängenden Gesellschaft weitgehend verloren, was es schwer macht, sie jetzt zurückzuholen - auch weil die Situationen am Lebensende heute so komplex und individuell sind, wie sie es noch nie zuvor waren. Aber eine gesetzlich verbindliche, allen Menschen bekannt gemachte und für alle verlässliche Regelung zu selbst bestimmten Entscheidungen über medizinische Behandlung am Lebensende eröffnet uns jetzt diese Möglichkeit. Es geht um eine Kernfrage der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Individuums: um das Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper.

(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Seit Jahren kennen wir die grundsätzlich verbindliche Patientenverfügung, in der schriftlich festgelegt ist, welche Therapie der Verfügende sich wünscht und welche er ausschließt. Nun geht es darum, dass diese Patientenverfügung endlich gesetzlich geregelt wird. Ich halte diesen Schritt für überfällig und folgende Einzelheiten für notwendig: Erstens. Niemand darf dazu gedrängt werden, eine Patientenverfügung zu verfassen.

(Joachim Stünker (SPD): Einverstanden!)

Zweitens. Jede Person, die eine Verfügung verfasst hat, muss sicher sein, dass diese Verfügung geachtet und umgesetzt wird.

(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Drittens. Die Abfassung der Verfügung muss schriftlich erfolgen, und die Verfügung muss jederzeit - auch mündlich - widerrufen werden können.

(Joachim Stünker (SPD): Auch einverstanden!)

Insofern halte ich den Fall, der vorhin beschrieben wurde, was nämlich Mediziner mit Patienten machen, die bei Bewusstsein sind, eine Patientenverfügung dabeihaben, nun aber etwas anderes wollen, nicht für einen Fall, der uns zu belasten hat.

(Beifall bei der LINKEN, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Denn ein Wille ist vorhanden; er kann geäußert werden. Der Wille steht dann natürlich über der vorhandenen Patientenverfügung. Viertens. Die Verfügung sollte so konkret und aktuell wie möglich sein: Will ich künstlich ernährt werden oder nicht? Soll eine auftretende Lungenentzündung mit Antibiotika behandelt werden oder nicht? Soll mein jetziger Wille auch gelten, wenn ich an Demenz erkranke, oder nicht? - Wir fordern viel von Ärzten und Pflegern in den Situationen zwischen Leben und Tod. Da haben sie ihrerseits das Recht, sicher zu wissen, was ihre Patienten wollen. Es geht eben im Grundsatz darum - Frau Leutheusser-Schnarrenberger hat das gesagt -, dass sich jeder von uns in allen Lebensphasen damit auseinandersetzt, ob er sich, durch einen plötzlichen Unfall oder eine tödliche Krankheit getroffen oder in schwerem Siechtum gefangen, lebensverlängernden Maßnahmen unterziehen will oder nicht und, wenn ja, in welchem Umfang. Jeder muss diese Auseinandersetzung vollziehen. Nur wer sich dieser Auseinandersetzung stellt, kann auf seinem Selbstbestimmungsrecht bestehen. Soll die Patientenverfügung eines 20 Jährigen auch noch 60 Jahre später gelten? Diese Frage hätte ich gern so beantwortet: Zum eigenen Schutz, zur eigenen Rechtfertigung und zur eigenen Klarstellung sollte jeder seine Verfügung alle drei bis fünf Jahre erneuern.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN und der SPD sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Nennen wir das doch nicht eine Zumutung. Wenn es um unsere Telefonverträge, unsere Versicherungspolicen und die Fahrtüchtigkeit unserer Autos geht,

(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

dann sind solche Aktualisierungen selbstverständlich. Warum dann ausgerechnet nicht bei solch existenziellen Fragen wie schwerster Krankheit und Sterben? Die Verfügung soll jederzeit veränderbar sein, den Phasen des individuellen Lebens angepasst. Sie sollte auch - das wäre die fünfte Forderung - für jeden Zeitpunkt eines Krankheitsverlaufes verändert werden können. Es darf keine Zwangsbehandlung geben, auch nicht bei Personen, die nicht einwilligungsfähig sind.

(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Gert Winkelmeier (fraktionslos))

Sechstens. Liegt eine schriftliche Patientenverfügung vor, die konkret auf die Behandlungssituation anwendbar ist, dann ist das kein Fall für das Vormundschaftsgericht.

(Beifall des Abg. Joachim Stünker (SPD))

Vormundschaftsgerichte sollten nur noch im Fall von Konflikten zwischen Ärzten, Betreuern und Angehörigen angerufen werden. Das wären aus meiner Sicht die wichtigsten Einzelheiten der gesetzlichen Regelung. Im Übrigen muss sie aber auch unbedingt Teil einer großangelegten Aufklärungskampagne sein; da stimme ich dem FDP-Antrag nachdrücklich zu. Die Grundsatzfragen von Sterben und Tod waren in unserem Lande lange tabu; das liegt auch an der mangelnden Auseinandersetzung mit den Todesapparaten der nationalsozialistischen Diktatur. Sie sind immer noch tabu, weil die Gesellschaft sehr säkular und materialistisch geworden ist. Die große Mehrheit der Bevölkerung hat sich mit dem Thema Patientenverfügung bisher nicht befasst. Viele Menschen haben ganz irrige Vorstellungen und wenig Wissen. Eine gesetzliche Regelung ist jetzt das Wichtigste, genügt allein aber nicht. Diese Debatte heute könnte der Anfang für eine Wende, einen neuen Umgang mit Alter, Krankheit, Sterben und Tod unter dem Schild der freiheitlichen Selbstbestimmung und des sie schützenden Rechts sein. Sie muss aber auch das Thema „Schmerztherapie für Sterbende“ neu aufgreifen. Immer noch müssen Sterbende in unserem Land Schmerzen erleiden, die medizinisch nicht sein müssten, wodurch ihnen das Sterben oft schwer gemacht wird. In diesem Land die Möglichkeit zu schaffen, selbstbestimmt und schmerzfrei zu sterben, ist eine Aufgabe für uns alle. Meine Fraktion ist bereit, daran aktiv mitzuarbeiten. Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)